Rechtsruck und soziale Spaltung: Manches erinnert derzeit an Weimarer
Verhältnisse. Doch die erste deutsche Demokratie bietet auch positive
Anknüpfungspunkte.

Weimar ist ein Magnet. Allein 2017 übernachteten 740.000 Touristinnen und Touristen in der Stadt. Die Gäste besuchen bisher vor allem die Orte der deutschen Klassik und die Gedenkstätte Buchenwald. Ab sofort gibt es eine weitere Sehenswürdigkeit von internationalem Rang: Am 31. Juli eröffnet das Haus der Weimarer Republik, pünktlich zum 100. Gründungsjahr der ersten parlamentarischen Demokratie auf deutschem Boden. Eine multimediale Dauerausstellung nimmt die Besucherinnen und Besucher mit auf eine Zeitreise in die Jahre 1919 bis 1933. Im kommenden Jahr werden Räume für Sonderausstellungen und Bildungsangebote dazukommen.

Dieses Projekt kommt zur richtigen Zeit. Lange spielte die erste Republik im deutschen Geschichtsbild eine untergeordnete Rolle. Dabei ist die Geschichte der Weimarer Republik für unsere Gegenwart von großer Bedeutung. Gerade auch die Jüngeren sollten sich intensiv mit ihr auseinandersetzen. Denn ähnlich der Weimarer Zeit steht unsere Demokratie heute gehörig unter Druck, wenngleich unter ökonomisch geradezu schlaraffenlandartigen Bedingungen. Der Diskurs verschiebt sich nach rechts. Früher Unsagbares ist salonfähig geworden, Fake-News und Hassbotschaften vergiften den öffentlichen Raum. Die Politik- und Demokratieverdrossenheit nimmt zu.

Dem Statistischen Bundesamt zufolge sagen 41 Prozent, sie seien nicht zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie (zufrieden: 43 Prozent). Immer weniger Menschen sind bereit, sich demokratisch zu engagieren. Immer mehr halten die Demokratie für eine Selbstverständlichkeit – wie den Strom aus der Steckdose. Sachsens SPD-Chef Martin Dulig hat es so formuliert: „Wir haben Leute in Ostdeutschland, die halten Demokratie für einen Pizzaservice: Ich bestelle, ihr liefert. Das führt zu einer permanenten Unzufriedenheit.“

Zu wenig entgegenzusetzen
Wer sich mit der Zeit zwischen 1919 und 1933 beschäftigt, dem wird klar: Demokratien haben keine Ewigkeitsgarantie. Sie können auch zerstört werden. Die Weimarer Republik war nicht von Dauer, weil sich die Gesellschaft spaltete und radikalisierte. Auf dem Nährboden von sozialer Ungleichheit und ökonomischer Verunsicherung wuchs der politische Extremismus. Am Ende hatte die schmale politische Mitte aus Sozialdemokraten und aufgeklärten Liberalen den radikalen Kräften nicht genug entgegenzusetzen. Die Konservativen wirkten seltsam unschlüssig. Es folgte die Jahrhundertkatastrophe.

Natürlich ist Berlin nicht Weimar. Der heutige Verfassungskonsens ist viel stärker als damals. Die Weimarer Republik war von Beginn an umstritten und wurde als „undeutsch“ diffamiert. Die Bundesrepublik hingegen hat eine eigene Identität entwickelt und wird von einem breiten demokratischen Konsens getragen. Doch wir müssen wachsam sein. Die zunehmend rechtsextremistische AfD spricht von „Umsturz“, davon, das „Parteiensystem abzuschaffen“ und von der „Kanzler-Diktatorin“. Ihr Thüringer Sprecher Björn Höcke sagt: „Der Parteiengeist muss überwunden, die innere Einheit hergestellt werden.“ Dass die AfD trotz dieser Geisteshaltung auf Zustimmung stößt, ist ein Alarmsignal.

Zumal auch bei uns die Spaltungstendenzen in der Gesellschaft zunehmen. Wir haben zwar keine Weimarer Verhältnisse. Aber es besteht Anlass zur Sorge. Fast im Monatsrhythmus erscheinen wissenschaftliche Studien, die auf die wachsende Ungleichheit in Deutschland hinweisen. Beispielsweise ergibt ein neuer Bericht des Internationalen Währungsfonds, dass der Export-Boom der vergangenen Jahre den Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert hat.

Dazu passt die jüngste Studie der Universität Bonn, wonach in den vergangenen Jahren mehr als die Hälfte der Vermögenszuwächse durch Immobilienbesitz auf die Konten der zehn Prozent reichsten Deutschen floss. Gerade im Osten haben viele Menschen das Gefühl, Opfer gebracht zu haben,
ohne von den wirtschaftlichen Erfolgen zu profitieren oder aufsteigen zu
können. Das macht sie anfällig für Populisten.

Morbide Demokratie in der Dauerkrise?
Aber nicht nur ökonomische Fragen treiben die Spaltung der Gesellschaft in Deutschland 2019 voran, auch kulturelle Unterschiede werden immer manifester. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für den gesamten „demokratischen Westen“. Die Brexit-Abstimmung in Großbritannien und die Wahl Donald Trumps haben gezeigt, wie sehr sich die polyglotte, weltoffene Bevölkerung in den urbanen Zentren in ihren politischen Einstellungen und Mentalitäten inzwischen von vielen Bürgern und Bürgerinnen auf dem Land und in den Kleinstädten unterscheidet. Die in der Stadt Lebenden sind finanziell noch nicht einmal besser gestellt, blicken aber nicht selten auf die übrigen Landesteile herunter. Das verstärkt die innere Aggression unserer Gesellschaft.

Diesen Antagonismus gab es übrigens schon in der Weimarer Republik: Die liberale Bevölkerung vergnügte sich in Berlin, während die reaktionäre Mehrheit auf dem Land und in den Kleinstädten lebte. Beide diffamierten sich gegenseitig und schwächten so die politische Kultur.

Die Geschichte der Weimarer Republik zeigt, wie wichtig eine Politik für den sozialen Zusammenhalt
ist. Wir brauchen höhere Löhne, mehr Wohnraum, bessere Schulen, mehr soziale und öffentliche Sicherheit, damit der wirtschaftliche Wandel keine Verlierer produziert. Auch müssen wir verhindern, dass Stadt und Land sich immer weiter auseinanderentwickeln. Das aktuelle Bestreben von Bund,
Ländern und Kommunen, in ganz Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, ist deshalb ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie.

Die Weimarer Verfassung war ihrer Zeit voraus
Für diese großen Herausforderungen – und das ist wichtig – bietet die Weimarer Republik auch viele positive Anknüpfungspunkte, die Mut machen und aus denen sich Kraft schöpfen lässt. Das verbreitete Bild einer morbiden Demokratie in der Dauerkrise ist viel zu einseitig. Die Weimarer Republik steht auch für das Streben nach Freiheit und für eine lange deutsche Demokratietradition – vom Hambacher Fest 1832 über die Märzrevolution 1848/49 bis zur Wiedervereinigung. Sie wurde von Werten geprägt, die bis heute gelten: Demokratie, Gleichberechtigung, Vielfalt, Sozialstaat. Sie hatte eine Verfassung, die ihrer Zeit voraus war und auf die die Väter und Mütter des Grundgesetzes aufbauen konnten; zentrale Normen der Reichsverfassung wurden übernommen. Sie brachte soziale Fortschritte, von denen wir heute noch profitieren, etwa die institutionalisierte Sozialpartnerschaft sowie die Einführung der Arbeitslosenversicherung und des Achtstundentages.

Außerdem hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Recht darauf hingewiesen, dass die Weimarer Republik keineswegs eine Demokratie ohne Demokraten war. „Diese mutigen Frauen und Männer standen viel zu lange im Schatten der Geschichte vom Scheitern der Weimarer Demokratie.“ Ihnen gebühre „Respekt, Hochachtung und Dankbarkeit“. Das „Haus der Weimarer Republik“ ist auch ein Ort, an dem den vielen demokratisch engagierten Menschen aus dieser Zeit gedacht werden soll.