Der neue Manager der SPD-Bundestagsfraktion ist kein großer Redner, auch in Talkshows tut er sich manchmal schwer. Aber dafür verkörpert Carsten Schneider etwas, was viele in seiner Partei verlernt haben: Er ist bürgerlich und nüchtern.

Die SPD hat zwei Weltkriege überlebt, aber ob sie die dritte grosse Koalition unter Angela Merkels Führung übersteht, weiss niemand. Überstehen heisst hier: eine relevante Kraft im Parteiensystem bleiben. Als Heimat künftiger Kanzler. Bei der Bundestagswahl 2005 hat jeder dritte Deutsche SPD gewählt, heute wäre es etwa jeder sechste.

Broschüren verteilen an der heiligen Stätte

Einer, der die Trendwende mit herbeiführen soll, ist Carsten Schneider. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion ist 42 Jahre jung, hat aber fast sein halbes Leben im Bundestag verbracht. Kaum ein Genosse kennt die Regeln und die Tücken des politischen Betriebs der Hauptstadt so gut wie er. Zugleich kennt kaum ein Wähler Carsten Schneider. Das liegt in erster Linie an ihm selbst. Der Bankkaufmann aus Thüringen wirkt dermassen nüchtern, dass selbst mässig charismatische deutsche Parlamentarier neben ihm wie kleine Obamas wirken. Das Wildeste, was der Mann macht, ist Rennrad fahren, einmal die Woche 70 bis 100 Kilometer durch das Berliner Umland. Doch genau diese unaufgeregte Art könnte in den nächsten Jahren ein Erfolgsrezept sein, für ihn und für seine Partei.

An einem Freitag im April steht Carsten Schneider auf dem Marktplatz im thüringischen Gotha im Nieselregen und verteilt Broschüren. Es sind noch zwei Tage bis zur Kommunalwahl, und «Kohsten», wie sie ihn hier rufen, will die Genossen aus der Heimat unterstützen. Gotha, muss man wissen, ist nicht irgendein Provinznest. Wenn es einen Ort gibt, der für die einst streng laizistische SPD den Status einer heiligen Stätte hat, dann diesen.

In Gotha haben sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammengeschlossen – 1890 umbenannt in SPD. Hier haben August Bebel und Wilhelm Liebknecht mit dem «Gothaer Programm» das Leitbild einer Linken formuliert, die die Verhältnisse im Sinne der Arbeiter reformieren und nicht revolutionär umstürzen wollte. Und hier will Schneider, der 1976 im nahen Erfurt zur Welt kam, darüber sprechen, wie seine Partei wieder auf die Beine kommen kann.

Kanzler? Er?

Doch vor der Theorie kommt die Fussgängerzone. Wie wenig Schneider hier in seinem Element ist, merkt man schon nach ein paar Minuten. Während Gothas SPD-Oberbürgermeister, ein Schlosser namens Knut Kreuch, jedes Kleinkind in seiner Reichweite knuddelt und jeden zweiten Passanten mit Namen und Handschlag begrüsst, wirkt Schneider weniger wie ein Wahlkämpfer, sondern eher wie ein Wahlbeobachter. «Na, du Ganove», ruft Kreuch einem Passanten zu und ergreift dessen rechten Unterarm mit beiden Händen. Anschliessend erzählt er von seinen Gedichten, seiner Liebe fürs Theater und seinem Wirken als Präsident des Deutschen Trachtenverbandes.

Wie viele Kostüme besitzt er selbst? «Kostüme?», brüllt Kreuch mit gespielter Empörung und so laut, dass es der halbe Marktplatz hört. «Tracht ist kein Kostüm! Tracht ist das Kleid der Heimat!» Dann lacht er. Einem Paar mit Kinderwagen stellt er den Reporter, den er erst seit diesem Nachmittag kennt, als «meinen Kumpel aus der Schweiz» vor. Dem wiederum verrät er, dass er «die zwei Hübschen» kraft seines Amtes selbst getraut habe. Mein Brautpaar, meine Wähler, meine Stadt, sagt Kreuchs Blick. Zum grauen Anzug von der Stange trägt das Stadtoberhaupt rote Schnürsenkel. Bloss nicht schicker sein als die Wähler.

Schneider hingegen wirkt mit seinem schmalen dunkelblauen Mantel und den feinen Wildlederschuhen fast ein bisschen zu weltmännisch für die Fussgängerzone von Gotha. Wenn er Hände schüttelt, dann kurz und trocken. Wenn er grüsst, dann ohne Verbrüderungsgesten. «Ich bin kein Schauspieler», sagt er. Ein Mann für grosse Bühnen sei er auch nicht. Was heisst das? Ein Ministerium käme vielleicht irgendwann infrage. Und das Kanzleramt? Schneider lächelt schief. Der Mann weiss, was er kann und was nicht. Er ist kein lodernder Europa-Visionär wie Martin Schulz und keine Rampensau wie Sigmar Gabriel. Aber er ist, anders als die zwei grossen Zampanos: noch da.

Schneiders Bundestagsreden sind bestenfalls solide. Mit den Alphatieren der parlamentarischen Debatte – Christian Lindner von der FDP oder Cem Özdemir von den Grünen – kann der Thüringer nicht mithalten. Auch in Talkshows macht er mitunter keine wirklich gute Figur. Kürzlich sass er dem Berliner AfD-Chef Georg Pazderski gegenüber. Der pensionierte Offizier ist ein moderater Nationalkonservativer, keiner der Schreihälse, von denen es in der Partei viele gibt. Schneider versuchte trotzdem, sein Gegenüber als Extremisten darzustellen, der von Schiessbefehlen an deutschen Grenzen träumt. Das ging auch deshalb in die Hose, weil der Sozialdemokrat es eigentlich besser weiss.

«Wenn, dann bitte kleinbürgerlich»

«Die AfD ist ein einziger Widerspruch», sagt er beim Gespräch in Gotha. Der nationalkonservative Flügel sei nur ein und zudem ein immer kleiner werdender Teil der Partei. Der andere Teil träume von einer nationalen Revolution, welche die «Systemparteien» wegspüle. Zusammengehalten werde das Ganze nur durch ein Thema, die Flüchtlingskrise. «Wenn wir die in den Griff bekommen, dann ist die AfD Geschichte», glaubt Schneider. Er jedenfalls wolle dafür sorgen, dass die SPD bald wieder den Regierungschef oder die Regierungschefin stellen kann. 30 Prozent Zustimmung seien bis 2021 machbar.

Schneider gehört in seiner Fraktion zum Seeheimer Kreis, dessen Mitglieder gerne als «konservative» Linke bezeichnet werden. Wo sieht er sich selbst? Schneider gibt die Frage zurück. Wie wäre es mit «bürgerlich» – wegen der Lehre zum Bankkaufmann, des soliden Familienlebens mit zwei Töchtern und des ganzen rundum seriösen Auftretens? Er schüttelt den Kopf: «Wenn, dann bitte kleinbürgerlich.»

Es gibt sehr wenige Menschen, die sich selbst so beschreiben würden. Kleinbürgerlich klingt nach Kacheltisch und Adiletten. Aber Schneider meint etwas anderes.

Lehre, Zivildienst, Abgeordneter

Die Eltern sind blutjung, als er zur Welt kommt, der Vater ist 17, die Mutter 19 Jahre alt. Sie bieten ihrem Sohn keine klassische Bildung, keinen Musikunterricht oder Tischgespräche über Literatur. Als er acht ist, zieht der Vater weg. Kurz nach der Wende geht die Mutter mit dem Stiefvater in den Westen. Der damals 14-Jährige entscheidet sich, in der Schule in Erfurt zu bleiben. Wer einmal ein Junge und 14 Jahre alt war, weiss, dass die Gefahr, zu verlottern, wohl zu keiner Zeit im Leben so gross ist wie in diesem hormonell überlasteten Alter.

Der junge Erfurter tut nichts dergleichen. Er macht sein Abitur, absolviert als Nächstes eine Lehre bei der Volksbank, dann den Zivildienst in der örtlichen Jugendherberge, schliesslich einen Kurzaufenthalt als Bankkaufmann bei der Sparkasse – ehe er 1998 als bis dato jüngster Abgeordneter der deutschen Geschichte ins Parlament einzieht. Ungeplant, wie er versichert. Mit 36,5 Prozent der Stimmen wählen ihn die Erfurter direkt in den Bundestag. Hauptverantwortlich dafür sei Gerhard Schröder gewesen, sagt er. Der hat damals einen bundesweiten Hype aus- und Helmut Kohl nach 16 Jahren als Kanzler abgelöst.

Carsten Schneider, dieses Kind von Kindern, dieses politische Boy-Wonder, hätte früh verblühen können, wie so viele junge Abgeordnete, die ausser der vermeintlichen Frische ihres Lebenslaufs wenig zu bieten haben. Der Sozialdemokrat ging stattdessen dorthin, wo die Macht zu Hause ist, also die Macht über das Geld. Er wurde Haushalts- und Finanzexperte. So konnte er unter anderem mit dafür sorgen, dass seine Heimatstadt ein Zwischenstopp auf der ICE-Schnellstrecke Berlin–München wurde. Das mag unspektakulär klingen, aber mit so einem Projekt bleibt man in der Erinnerung. Erfurt ist seither nationaler Verkehrsknotenpunkt.

Den Bürgermeister Kreuch machte der Abgeordnete Schneider auch glücklich, indem er den Haushaltsausschuss überzeugte, die Hälfte der Kosten für die Sanierung von Gothas Barockschloss Friedenstein zu übernehmen. Kreuch bestätigt das mit einem breiten Grinsen. Er habe den Carsten so lange genervt, bis der sich sein Schlösschen angeschaut habe. «Danach konnte er gar nicht mehr anders.» Während der Bürgermeister spricht, hält er dem Zuhörer ein Tablett mit Kuchen unter die Nase und gibt erst Frieden, als man ein Stück in den Mund steckt.

Er muss jetzt auch die Chefin managen

Lass andere gut dastehen: Diese alte Karriere-Regel beherrscht der Abgeordnete Schneider aus dem Effeff. Sein neuer Posten ist dafür wie gemacht. Fraktionschefs mögen im Rampenlicht stehen, aber parlamentarische Geschäftsführer sind die Strippenzieher des Betriebs. Sie bereiten die Sitzungen vor, koordinieren Gesetzesinitiativen und sorgen in den eigenen Reihen dafür, dass sich niemand blamiert. Ein Beispiel? Schneider will keine Namen nennen. Und hypothetisch? «Stellen Sie sich vor, ein neuer Abgeordneter kommt in den Finanzausschuss. Den frage ich dann unter vier Augen: Sag mal, was liest du eigentlich für Zeitungen? Wenn als Antwort dann nur das Lokalblatt kommt, dann sage ich, dass das nicht reicht. Und wenn er kein Englisch spricht, wird ihm ein Sprachkurs empfohlen.» Die SPD wolle schliesslich die politische Debatte prägen und einen ordentlichen Eindruck machen.

Den besten Eindruck will künftig eine Frau machen, Andrea Nahles. An diesem Sonntag soll die Fraktionsvorsitzende der SPD auch die neue Parteichefin werden. Mit einem tollen Wahlergebnis rechnet keiner. «75 Prozent plus x», tippt man in Berlin. Unter 70 Prozent wären eine Enttäuschung, unter 65 Prozent ein Fehlstart. Egal, wie es kommt, Schneider wird als rechte Hand keine Verantwortung tragen. Dafür arbeiten die zwei noch nicht lange genug zusammen. Aber alles, was nach Sonntag passiert, geht dann auch auf seine Kappe. Er wird nicht nur die Hinterbänkler managen müssen, sondern auch die Frau, die führen will.

Keine leichte Aufgabe. Wenn Andrea Nahles gute Laune hat, vergisst sie regelmässig, dass ihr der Souverän bei der Arbeit zuschaut. Dass sie im Bundestag einmal ein Pippi-Langstrumpf-Lied gesungen hat, kann keiner vergessen, der es gehört hat. Dass sie nach der Wahl im Spass damit gedroht hat, der Union «auf die Fresse» zu geben, auch nicht. Wenn Nahles klug ist, fragt sie künftig erst den Mann aus Erfurt: «Fändest du das auch so witzig wie ich, Carsten?»

Gewinnen ist möglich

Der Vorteil der SPD ist, dass es keine Erwartungen gibt, die die Partei in ihrem jetzigen Zustand enttäuschen könnte. Ganz anders als die Konkurrenz. Bei der CDU steht irgendwann ein Machtwechsel an, der viele unter dem Deckel gehaltene Konflikte zum Ausbruch bringen könnte. Bei der FDP wissen sie, abgesehen vom Digitalisierungsfimmel, immer noch nicht, was sie eigentlich wollen. Bei den Grünen träumt die Spitze allen Ernstes wieder davon, «die Welt» zu retten, und die AfD hat tatsächlich nur das eine Thema, das die Lager zusammenhält.

Dass die SPD noch immer gewinnen kann, hat sich am Sonntag in Gotha gezeigt. Da wurde Knut Kreuch im ersten Wahlgang als Oberbürgermeister wiedergewählt: mit 61,1 Prozent der Stimmen.

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Banklehre statt Studium, weil das Geld knapp war. So kam er zum Thema Finanzen. Inzwischen ist Carsten Schneider SPD-Finanzexperte – und seit heute auch Parlamentarischer Geschäftsführer.

 

Schnell im Kopf, mit großem Überblick: Der Erfurter Carsten Schneider ist auf die neue Aufgabe gut vorbereitet. Obwohl er erst 41 Jahre ist, hat er schon fast 20 Jahre Parlaments-Erfahrung. Sein Thema sind Finanzen, zuletzt hat er sich damit als stellvertretender Fraktionschef beschäftigt. „Als Finanzer kennt man sich automatisch mit fast allem aus“, sagt Schneider.

„Bei uns läuft alles durch, alle müssen zu uns. Und deswegen hat man ein profundes Wissen über fast alle Dinge, nicht ganz, ganz tief immer, aber doch ein ganz gutes Gefühl mit der Zeit. Und dann ist es natürlich eine Machtfrage. Ich mache ja Politik, weil ich die Gesellschaft verändern will. Und das geht ganz stark immer über Geld.“

Dafür gibt es ein paar Beispiele. Zuletzt war Schneider der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wichtig. Er setzte mit durch, dass der jetzt gezahlt wird, bis die Kinder 18 Jahre alt sind. Das war einer der Punkte, an denen man merken konnte, dass der Finanzer Schneider Sozialdemokrat ist.

„Diesen Leuten, meistens sind es Mütter und ihre Kinder, geht es wirklich dreckig. Sie stehen aber nicht im Fokus“, ärgert sich Schneider. Für jedes Kleinstunternehmen gebe es in Berlin einen Lobbyverband, der dessen Interessen vertrete – sei es, dass sie keine Steuern zahlen oder Subventionen wollten. „Aber für die Millionen Alleinerziehenden und deren Kinder gibt es den nicht.“

Seine politische Haltung passt zur Biografie. Schneider ist als Sohn einer allein erziehenden Mutter mit wenig Geld aufgewachsen. Weil das knapp war, machte er nach dem Abitur eine Banklehre, statt zu studieren. So kam er zum Thema Finanzen. Jetzt wird er sich breiter aufstellen müssen, um die gebeutelte SPD wieder voranzubringen – wobei er die miserablen Werte, die seine Partei jetzt bundesweit geholt hat, aus Thüringen schon länger kennt. Was er vor einem Jahr über die Lage dort sagte, lässt sich nach dem Wahlsonntag ganz gut auf die Bundespartei übertragen.

„Die Landesregierungen, die letzten, an denen wir immer beteiligt waren als Juniorpartner, haben eigentlich im Kern alle sozialdemokratische Politik gemacht. Aber das zahlt bei uns nicht ein.“ Die SPD brauche jetzt überragende Persönlichkeiten, um aus diesem Tief zu kommen.

(…)

 

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Carsten Schneider steht im Studio des ZDF-Morgenmagazins. Dunkles Jackett, graue Krawatte mit fliederfarbenen Streifen, gewählte Worte. Der SPD-Finanzexperte macht eine gute Figur. Zunächst zumindest. Doch dann will Moderatorin Dunja Hayali Details wissen, wie genau die Sozialdemokraten Geringverdiener entlasten wollen. Das überlasse er Martin Schulz, sagt Schneider mehrfach und gebetsmühlenartig. Hayali hakt nach. Schneider kommt ins Schwimmen.

Es ist Mai und der Donnerstag vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Und im SPD-Bundesvorstand ist vereinbart, dass Spitzenkandidat Schulz erst am Montag danach Einzelheiten seines Programms vorstellt. Ein Fehler, wie sich später herausstellt. NRW wird für die SPD zum Debakel. Sie verliert in ihrem Stammland die Macht, und der ohnehin strauchelnde Schulz stürzt weiter ab.

„Dunja Hayali hat mich gegrillt“, sagt Schneider gut zwei Monate später selbstkritisch.

 Eigentlich ist er längst ein routinierter Redner. Ob im Parlament oder in Fernsehstudios: Er klärt über die Finanzhilfen für Griechenland auf, erläutert, warum ein Transparenz-Register für Unternehmen wichtig ist, fordert nach der Frankreich-Wahl EU-Reformen.

Dass er an diesem Tag im Vorfeld der wichtigen Wahl eine schlechte Figur machte, ärgert ihn. Aber es geht nicht nur um seine Person, es geht um die Partei. „Wir haben eine gute Ausgangsposition verballert“, sagt er. Am 24. September ist Bundestagswahl. Schneider ist der Spitzenkandidat der Thüringer SPD. Und er ist ein alter Hase. Trotz seiner gerade mal 41 Jahre sitzt er beinahe 20 Jahre im Bundestag.

1997 fängt alles an. Die Jusos wollen einen eigenen Kandidaten für den Bundestag ins Rennen schicken, finden aber niemanden, der entweder schon eine Ausbildung oder ein Studium beendet hat. Schneider schließt gerade seine Banklehre ab – und sagt zu. Die CDU in Erfurt nimmt den Jungspund nicht ernst. Die örtliche SPD ist gespalten. Schneider muss eine Kampfkandidatur überstehen. Hauchdünn setzt er sich schließlich gegen die etablierten Parteifreunde durch. Das war im September. Im Januar 1998 ist er bereits wieder kurz davor, die Brocken hinzuschmeißen. Der Druck ist enorm. Die Alten in der Partei ziehen sich enttäuscht zurück, weil Schneider nicht ihr Kandidat ist. Die Jusos haben wieder andere Dinge im Kopf. Schneider bleiben eine Handvoll Gefährten. Aber mit Themen und Wahlkampf kennt er sich nicht aus. Nach einer kurzen Phase des Zauderns entschließt er sich, durchzuziehen.

Um sich bekannt zu machen, steht er vor dem Erfurter Rathaus und bügelt Hemden, kniet sich in die politischen Themen rein. Mit Erfolg. Er wird direkt in den Bundestag gewählt.

Rot-Grün regiert. Bundeskanzler ist ein gewisser Gerhard Schröder und Schneider der jüngste Abgeordnete aller Zeiten. Er sitzt im Haushaltsausschuss, hat von Tuten und Blasen keine Ahnung.

Dennoch scharren sich ständig Fernsehteams um den Prinz aus der Provinz. Er wird zum Liebling der Medien. Allein dreimal ist er zu Gast in der damals kultverdächtigen Harald-Schmidt-Show. Alte, erfahrene Parlamentarier, selbst einflussreich zwar und mit vielen Kontakten, aber ohne größere öffentliche Aufmerksamkeit, beäugen das Treiben zunehmend missmutig. Irgendwann nimmt ihn eine Kollegin zur Seite und fragt: Willst Du arbeiten oder bist Du hier für Show? Da hat Schneider verstanden.

Er lernt die Haushaltspolitik von der Pike auf, ist für den Justizetat in der SPD-Fraktion zuständig, konzentriert sich auf den Wahlkreis, arbeitet solide.

In der nächsten Legislatur, Schneider wird wieder direkt gewählt, erhält er den weitaus größeren Bildungs- und Forschungsetat, wird stellvertretender haushaltspolitischer Sprecher. „Ich hatte immer klare Ziele, aber es waren nie große Sprünge, sondern folgerichtige Entwicklungen. Und Glück war manchmal auch im Spiel“, sagt Schneider heute.

Er sitzt an einem Morgen im Juli im Biergarten seiner Erfurter Stammkneipe und frühstückt. Rührei mit Toast, frisch gepressten Orangensaft, einen Pott Kaffee. Schneider raucht nicht mehr, trinkt nur noch wenig Alkohol. „Die ersten Anzeichen der Midlife-Crisis“, scherzt er. Wie kann es der in den Umfragen abgeschlagenen SPD gelingen, wieder Fahr aufzunehmen? „Wir müssen Martin Schulz in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen zuspitzen. Es geht darum, ob die Menschen eine gerechte Politik mit der SPD-Regierungsbeteiligung wollen oder Schwarz-Gelb“, sagt Schneider.

Es klingt fatalistisch. Aber Schneider ist ein Routinier. Dass man einen langen Atem braucht, nicht aufgeben darf, weiß er aus eigener Erfahrung.

Im Jahre 2005 folgt ein weiterer Karriereschritt. Schneider wird haushaltspolitischer Sprecher. Es ist die Zeit der großen Koalition und der Finanzkrise. Peer Steinbrück ist Finanzminister, Schneider sein Gegenpart in der Fraktion, er profiliert sich, betreut federführend das Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Die öffentliche Aufmerksamkeit nimmt wieder zu, aber dieses Mal, weil er fachlich etwas zu sagen hat.

2013 erklimmt er in der parlamentarischen Hierarchie die nächste Stufe. Trotz Gegenkandidat und fehlender Hausmacht wird der Thüringer einer der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Er ist einer der wenigen Ostdeutschen, die es so weit nach oben geschafft haben. In der Fraktion haben Landesverbände, zumal wenn sie so klein sind wie der Thüringer, kein Gewicht, die politischen Flügel schon. Schneider ist deshalb einer der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises geworden. Er ist zudem seit vielen Jahren Vorsitzender des so genannten Vertrauensgremiums, das die Haushalte der bundesdeutschen Geheimdienste kontrolliert. Hier lässt er sich auch schon mal über die Weltlage unterrichten.

Könnte er sich vorstellen von der Spree wieder an die Gera zu wechseln?

„Ich habe ein großes Herz für Thüringen und die Thüringer SPD. Aber ich habe zu lange politische Berliner Luft geschnuppert“, gesteht er. Die großen Themen interessieren ihn mehr: internationale Finanzpolitik, IWF-Jahrestagungen, globale Fragen von Arm und Reich. All das wird im Landtag nicht entschieden. Dort stehen Bildungs- und Innenpolitik oder die Gebietsreform oben auf der Agenda. Schneiders Leib- und Magenthemen sind das nicht.

Er ist Abgeordneter für Erfurt und Weimar. Aber seinen Hauptwohnsitz hat Schneider seit langem in die Nähe Berlins verlegt, um Job und Familie besser unter einen Hut zu bringen. Seit 2010 lebt er mit seiner Frau und den beiden Töchtern (9 und 11) in Potsdam. Weil er den Wechsel sofort öffentlich machte, haben es ihm die Wähler nicht krumm genommen. In den sitzungsfreien Wochen ist er drei, dreieinhalb Tage in Erfurt. Sonntags versucht er nur in Ausnahmen Termine zu machen. Wenn er die Zeit findet, schwingt er sich aufs Rennrad, ab zu läuft er, fährt Motorrad oder angelt.

Und was kann jetzt beruflich noch kommen? Minister?

„Ich mache meinen jetzigen Job sehr gerne weiter“, sagt Schneider und blinzelt im Biergarten gegen die niedrig stehende Sonne. In seiner jetzigen Position dürfte er unangefochten sein. Aber betrachtet man Schneiders Entwicklung, nimmt man ihm nicht ab, dass sein Aufstieg zu Ende sein soll.

Dass er, der 20 Jahre als freier Abgeordneter selbstbestimmt seine Runden drehte jetzt, unter einem Minister Staatssekretär wird, kann man sich dabei jedoch nur schwer vorstellen. Aber wer weiß. Und natürlich wäre der Posten des Fraktionschefs auch eine Option. Aber: Das Fell des Bären wird erst verteilt, wenn er erlegt ist. Schneider sagt zu alldem ebenso wenig wie zu möglichen Koalitionen.

Zwischen den aktuellen Partnern CDU und SPD gebe es signifikante Unterschiede, bei der Rente beispielsweise. Oder bei der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Steuerpläne der CDU entlasten vor allem die höchsten Einkommen.

Dennoch: Die Union ist in den Umfragen davon gezogen.

„Ich glaube aber wirklich, dass noch viel wackelt“, sagt Schneider.

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Als Carsten Schneider 1998 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt wurde, war der SPD-Twen aus Erfurt der Benjamin in der SPD-Bundestagsfraktion. Anders als viele Politiker-Kollegen, die mit Anfang 20 schon wirken als hätten sie die 40 überschritten, sah Schneider auch aus wie 22. Das machte aber nichts, erzählt der heute 41-Jährige – „die haben mich zunächst bestaunt wie einen Exoten“.

Der Bundestagsneuling hatte trotzdem einen guten Start: Die Regierungsbildung von Gerhard Schröder saugte viele politische Talente aus der Bundestagsfraktion ins Kabinett. Und die Thüringer Sozis hatten dermaßen viele Thüringer Bundestagswahlkreise gewonnen, dass die Landesgruppe einen Anspruch auf einen Sitz im begehrten Haushaltsausschuss hatte. Den bekam der blutjunge Bundestagsneuling, denn der hatte außer viel Chuzpe noch eine abgeschlossene Banklehre vorzuweisen.

Erster „Coup“: Millionen für die Klassik Stiftung

Im Haushaltsausschuss des Bundestages machte sich der gebürtige Erfurter schnell einen Namen – etwa als er in einer stundenlangen Nachtsitzung für die Stiftung Weimarer Klassik einen zweistelligen Millionen-Zuschlag herausverhandelte. Das kam so überraschend, dass sogar Präsident Helmut Seemann zunächst nicht wusste, wofür die Stiftung den unerwarteten Geldsegen ausgeben könnte. „So geht das“, sagt Schneider selbstbewusst. ALLES, jeder Ausgabenposten des Bundes, müsse von den Haushaltspolitikern abgesegnet werden. Wo, wenn nicht dort ließen sich Wohltaten für den heimischen Wahlkreis herausverhandeln. Und weil Schneider genau dies smart und beredt tat, konnte er den Erfurter Wahlkreis zweimal direkt für die SPD wiedergewinnen.

In dieser Zeit erweiterte Schneider seine politische Agenda in Berlin – profilierte sich als Wirtschaftsexperte, begleitete fachkundig die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise, befasste sich für seine Fraktion mit Fragen der Globalisierung. Auch wenn er dem Spruch „Geld regiert die Welt“ viel abgewinnen kann, gehört Schneider innerhalb der Sozialdemokratie eher zum rechten Flügel, kann sich zum Beispiel ganz aktuell eine rot-rote Zusammenarbeit im Bund nicht vorstellen. Das hänge aber auch mit seinen Erfahrungen mit den Linken im Bundestag zusammen. Anders als etwa bei den pragmatisch orientieren, ost-sozialisierten Thüringer Linken würden in der linken Bundestagsfraktion zuviele West-Linke mit K-Gruppen-Vergangenheit mitreden: Ideologisch angestaubt, dogmatisch, nicht regierungsfähig, findet Schneider.

Stellvertretender Fraktionschef

Die Berliner Erfahrungen haben Schneider allerdings nicht gehindert, 2014 bei der Bildung der rot-rot-grünen Landesregierung in Erfurt tatkräftig mitzuwirken. Auch bei der Inthronisation von SPD-Chef Andreas Bausewein als Nachfolger des glücklosen Christoph Matschie. „Ich versuche, Andreas den Rücken zu stärken“, sagt Schneider. Dies gelte auch für das größte politische Projekt von Rot-Rot-Grün – die Gebietsreform. „Wenn Linke, SPD und Grüne gemeinsam nicht die politische Kraft aufbringen, diese für Thüringen lebensnotwendige Reform umzusetzen, dann ist Rot-Rot-Grün als Reformregierung gescheitert.“

In der zu Ende gehenden Wahlperiode wurde der Erfurter noch einmal befördert: Zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion. Damit ist er der Thüringer Bundestagsabgeordnete mit dem meisten Einfluss in Berlin. Nach der Wahl würde Schneider dieses Amt gerne weiterführen. „Da wäre ich schon zufrieden.“ Und sonst? Politische Beobachter halten Schneider durchaus für ministrabel. Immerhin hat mit Manuela Schwesig gerade eine ostdeutsche SPD-Politikerin das Bundeskabinett in Richtung Mecklenburg-Vorpommern verlassen. Falls also eine SPD-Ministerriege gebildet werden muss, dann gibt es für Martin Schulz durchaus Bedarf ein einem jungen und talentierten Politiker aus dem Osten Deutschlands.

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Ich hatte mir fest vorgenommen, Carsten Schneider nicht zu ­mögen. Ich hatte, wie ich fand, auch gute Gründe dafür:

  • Carsten Schneider kam 1998 in den Bundestag, damals war er 22 Jahre alt und jüngster Bundestagsabgeordneter der Geschichte. Er hat also ­genau die Karriere gemacht, von der ich früher geträumt hatte. In den Neunzigerjahren, in meiner Schulzeit in Ulm, war ich Salonsozialist und SPD-Mitglied (trat dann allerdings aus, weil mir Gerhard Schröder zu rechts war).
  • Carsten Schneider ist heute haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Sprecher des Seeheimer Kreises, in dem sich die Parteirechte organisiert. Er redet die ganze Zeit vom Sparen?– er ist wohl das Ideal­exemplar eines pragmatischen Sozialdemokraten, der alle ­linken Werte der Partei verraten hat
  • Carsten Schneider will sich schon um fünf Uhr am Nachmittag mit mir treffen. Wahrscheinlich will er zeitig nach Hause und wird bis ­dahin nur Apfelschorle trinken, damit er mir im Alkoholrausch nicht aus Versehen erzählt, dass ihm Politik egal ist und es ihm nur um das Geld oder die Karriere oder so geht.

Dass mein Bild von Carsten Schneider nicht ganz stimmen kann, merke ich zunächst daran, dass ich ihn nicht erkenne. Noch nicht einmal, als er direkt vor mir steht, in der Kneipe Double B in Erfurt, seinem Stammlokal. Erfurt bildet mit Weimar Schneiders Wahlkreis. Er trägt einen verwaschenen Kapuzenpullover und verhält sich nicht, wie ich es von jedem Politiker erwarte: Er klopft mir nicht jovial auf die ­Schulter, schielt nicht nach den Fotografen, stellt sich nicht in den Mittelpunkt, sondern ist immer darauf bedacht, niemandem im Weg zu stehen. Schneider bietet mir mit leiser Stimme das Du an und sagt, dass ­zufällig Freunde von der SPD da seien, ob wir uns dazusetzen wollen?


Link zum vollständigen Portrait

Sportfans kennen diese legendäre Szene der Tour de France 1997: Udo Bölts, Edelhelfer des jungen Rennradgotts Jan Ullrich, schreit seinen auf der letzten Bergetappe schwächelnden Chef an: „Quäl dich, du Sau!“ Ullrich quälte sich und gewann. Es blieb, so talentiert und so gedopt er war, sein einziger Toursieg.

Carsten Schneider, haushaltspolitischer Sprecher der SPD, zitiert den Vorfall mit einem abgründigen Lächeln, während er mit Sorgfalt und Genuss Rouladen mit Rotkraut und Knödeln im Garten des Bundestagskasinos verzehrt. Kurz fixiert er mich durch seine schwarz gerahmte Brille: Er schätzt ab, mit wem er hier spricht.

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Am Anfang war er einfach nur der „jüngste Abgeordnete aller Zeiten“, und als er, gerade 22 Jahre alt, mit dem Zug aus Erfurt in Bonn ankam, der damals noch nicht abgewickelten Bundeshauptstadt, wurde er am Hauptbahnhof von Rundfunk- und Fernsehteams empfangen wie ein Popstar. Das war 1998. Damals trug Carsten Schneider noch eine lustige Igelfrisur, sah neugierig durch seine dicke Brille und sagte Sätze wie: „Man sollte nicht länger als zwölf Jahre im Bundestag bleiben, danach verblödet man.“

Der einstige Grünschnabel – inzwischen verheiratet und Vater zweier Töchter – ist mit seinen 35 Jahren immer noch jung. Aber verblödet ist er nicht, sondern im Gegenteil fast schon ein alter Fuchs, der sich auskennt im Parlamentsbetrieb: Einer der weiß, wie man um Mehrheiten und Kompromisse feilscht, wann man sich mit wem verbündet, um ans Ziel zu kommen, und wie man es schafft, die Nummer eins auf der Landesliste zu bleiben.

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Carsten Schneider (SPD) und Steffen Kampeter (CDU) sind eines dieser odd couples, dieser seltsamen Paare, die die große Koalition hervorbringt. Nichts, so scheint es, passt zusammen. Schneider ist schlank und sportlich. Kampeter geht die Treppe allenfalls runter. Der Ossi Schneider ist leise, der Wessi Kampeter laut. Kampeter kann nur schlecht stillsitzen, Schneider angelt gern. Schneider hat Haare auf dem Kopf, Kampeter auf den Wangen.

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Gerade wieder jonglieren die Haushaltspolitiker des Parlaments mit Milliarden. Ein kompliziertes Geschäft, das durch die Finanzkrise und begehrliche Minister noch schwieriger werden wird.

Steffen Kampeter und Carsten Schneider trennt ziemlich viel. Der eine ist in Westfalen zu Hause, der andere stammt aus Thüringen. Klassische CDU der eine, unorthodoxe SPD der andere. Gewichtig im Auftritt der 44-jährige Kampeter, jungenhaft-lausbübisch der zwölf Jahre jüngere Schneider.

Eines aber teilt dieses ungleiche Paar: die Leidenschaft fürs Kulturelle, eine Leidenschaft, die sich mancher Sammler eine Stange Geld kosten lässt. Kampeter und Schneider haben sich ihren Enthusiasmus auch viel kosten lassen, genauer gesagt: 400 Millionen Euro. Bezahlt hat in ihrem Fall der Steuerbürger.

Die 400 Millionen Euro hatte Finanzminister Peer Steinbrück Ende des vergangenen Jahres übrig, weil die Steuern so gesprudelt waren. Das geht in die Kultur und nicht auf die hohe Kante, beschlossen die beiden Koalitionäre, die als Obleute ihrer Fraktionen im Haushaltsausschuss sitzen.

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