Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Barthle, auch ich war diese Woche hier. Ich habe allerdings einen anderen Eindruck, sowohl was die Debatte und den Zusammenhalt innerhalb der Koalition als auch insbesondere was die Linie der Regierung betrifft; denn die war eigentlich gar nicht erkennbar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wer den markanten grundsätzlichen Redebeitrag der FDP-Fraktionsvorsitzenden am Mittwoch gehört hat, der hat gesehen, dass sich hier keine Hand gerührt hat.

(Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): Was?)

Ich kann das auch gut verstehen; denn das, was sie gesagt hat, war gänzlich fernab der Realität.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir sind kurz vor dem Einstieg in die parlamentarischen Beratungen des Haushaltsentwurfs; Sie haben darauf hingewiesen. Sie haben allerdings wenig dazu gesagt, vor welchen Herausforderungen dieses Land steht, Herr Barthle; davor haben Sie sich gedrückt. Ich habe die ganze Woche Minister reden hören, die wohltönend dargelegt haben, was sie alles machen werden: Die Mittel für das Elterngeld und die Zahl der Vätermonate sollen erhöht werden, die Mittel für den Arbeitsmarkt sollen nicht gekürzt, sondern erhöht werden etc. Kein einziger Minister hat gesagt, wo er sparen will, und das, obwohl Sie von der FDP-Fraktion uns in der Vergangenheit immer mit Ihren Sparbüchern, in denen steht, wo Sie überall sparen wollen, traktiert haben. Sie haben nicht einen einzigen der Vorschläge, die Sie jahrelang gemacht haben, eingebracht.

(Joachim Poß (SPD): Die haben ihre Bücher verbrannt! Die haben eine Bücherverbrennung gemacht! – Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die FDP war wahrscheinlich mit Überweisungen beschäftigt!)

Ich bin gespannt, ob dazu noch etwas kommen wird.

Die Lage ist aber viel zu ernst für Scharmützel. Der Herr Bundesfinanzminister hat am Dienstag eine sehr bedeutungsschwere Rede gehalten, allerdings mit relativ wenig konkretem Inhalt. Deshalb muss man Ihnen, denke ich, heute noch einmal die Gelegenheit geben, zu antworten.

Ich will Ihnen klar sagen, wie die Lage ist, Herr Bundesfinanzminister: Ausweislich Ihrer eigenen Berichte ? ich nehme an, Sie kennen sie; vielleicht muss man sie aber dem Bundestag noch einmal vorstellen ? sind wir in einer Situation ? Bundesbankpräsident Weber hat sich gestern dazu geäußert ?, die sehr kritisch ist. Die ökonomische Situation ist kritisch, insbesondere aber die öffentlichen Finanzen. Er sagt: Tiefe Einschnitte bei den Staatsausgaben sind unausweichlich. Er fügt hinzu, dass im Falle von Steuersenkungen ? das ist ja Ihr Hauptpunkt, das ist der Grund, warum Sie sich alle paar Wochen wieder zum Essen treffen und groß Verbrüderung feiern ? die Einsparungen, weil Steuersenkungen gegenfinanziert werden müssten, sogar noch härter ausfallen müssten.

(Zuruf von der FDP: Das können wir durchrechnen!)

? Ja, rechnen wir das einmal zusammen: Im nächsten Jahr müssen Sie wegen der Schuldenbremse 10 Milliarden Euro einsparen. Hinzu kommen 3 Milliarden Euro wegen höherer Zinsausgaben. Das macht 13 Milliarden Euro. Wenn Sie dann dazurechnen, dass wegen der Steuerentlastung von 20 Milliarden Euro, die Sie beschließen wollen, der Bund 10 Milliarden Euro weniger einnimmt, sind wir bei 23 Milliarden Euro. Wie wollen Sie das finanzieren? Einen Sparvorschlag habe ich nicht gehört; die Steuern erhöhen wollen Sie aber auch nicht. Wie wollen Sie das also finanzieren? Ich höre immer: durch Wachstum. Bei einer Steuerquote von 25 Prozent brauchten Sie zusätzlich zu dem Wachstum, das im Moment unterstellt wird ? 2 Prozent ?, ein Wachstum von 8 Prozent. Das heißt, um das, was Sie sich vorgenommen haben, zu finanzieren, brauchten Sie 2011 ein Wachstum von 10 Prozent. Da frage ich mich: Ist das hier Alice im Wunderland?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich sind auch wir Sozialdemokraten daran interessiert, dass wir ein hohes Wachstum haben. Deswegen haben wir ja die Konjunkturprogramme unterstützt und sie mit durchgesetzt. Ich bin einigermaßen entsetzt, dass der Kernpunkt des öffentlichen Investitionsprogramms nach Aussage Ihres Ministeriums, Herr Staatssekretär Koschyk, nun zur Diskussion steht, nämlich die Bedingung, dass, wenn der Bund für Vorhaben Mittel bereitstellt, Länder und Kommunen diese Vorhaben mitfinanzieren; so soll ein höherer Wachstumseffekt erreicht werden. Diese Bedingung hat der Deutsche Bundestag beschlossen. Wir haben im Haushaltsausschuss mit Zustimmung der Kollegen der CDU/CSU ? bei den Kollegen der FDP bin ich nicht ganz sicher ? nachdrücklich dafür gesorgt, dass diese Bedingung gestellt wird. Wir haben sogar aufgenommen, dass der Bundesrechnungshof das Recht, zu prüfen, erhält. Was machen Sie nun? Sie wollen diese Bedingung der Zusätzlichkeit streichen, Sie wollen diesen zusätzlichen Impuls für die wirtschaftliche Entwicklung streichen.

(Joachim Poß (SPD): Hört! Hört!)

Das ist eine Konterkarierung des Konjunkturprogramms.

(Joachim Poß (SPD): Pfui!)

Man muss sich um die wirtschaftliche Situation in Deutschland Sorgen machen.

(Beifall bei der SPD)

Man kann Vermutungen anstellen, warum das so kommt. In den Verhandlungen über Ihr sogenanntes Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das viel Wirkung in den Parteikassen hinterließ, für den Staat aber Mindereinnahmen zur Folge hatte, kam vom sächsischen Ministerpräsidenten, Herrn Tillich, der Wunsch, die Bedingung der Zusätzlichkeit zu streichen. Auf meine Nachfrage im Haushaltsausschuss hat das Bundesfinanzministerium die Auffassung geäußert, dass man das auf keinen Fall wolle. Ich kann Ihnen die Begründung dazu im Einzelnen vorlegen; ich will Sie aber nicht traktieren. Wenn Sie die Bedingung der Zusätzlichkeit streichen wollen, müssen Sie zustimmen; denn es ist ein zu Gesetz zu ändern, das Sie vor einem halben Jahr voller Verve und mit guter Begründung anders beschlossen haben.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie dem zustimmen, Herr Bundesfinanzminister, dann ist das die erste schwere Niederlage in Ihrer Amtszeit.

(Zuruf von der SPD: Nicht die letzte!)

? Auch ich habe große Sorgen, dass das nicht die letzte sein wird. Man muss nach dieser Debatte wirklich den Eindruck haben ? das ist realistisch ?, dass Sie sich von den Vorgaben des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes als auch von der Schuldenbremse verabschieden, dass Sie die Vorgaben nicht einhalten werden und die Schuldenbremse nicht umsetzen werden. Und das in einer Phase, in der wir diese massive Staatsverschuldung haben: 2013, am Ende dieser Legislatur, wird sie bei über 1 Billion Euro liegen, und für Zinsen müssen wir 53 Milliarden Euro aufwenden. Hinzu kommt das Zinsänderungsrisiko aufgrund höherer Inflationsgefahr, wenn die Konsolidierung nicht erfolgt; auch auf dieses Risiko weist der Bundesbankpräsident hin. Das wird dem Staat die Luft abschnüren. Die FDP hat hier eine klare Grundsatzposition: am besten gar keinen Staat mehr. Freiheit für alle, vor allen Dingen Freiheit von jedweder Verantwortung.

(Beifall bei der SPD ? Jörg van Essen (FDP): Dass Sie sich nicht schämen, hier einen solchen Unsinn vorzutragen!)

Sie sind gewählt worden von 15 Prozent der Bevölkerung ? herzlichen Glückwunsch! Mittlerweile sind Sie aber zuständig für das ganze Land, für 100 Prozent der Bevölkerung. Alles, was hier in den letzten Tagen besprochen wurde und an Vorschlägen kam, geht in die Richtung einer reinen Klientelpolitik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will Ihnen das an einem Punkt deutlich machen, der für den Bundeshaushalt mittlerweile große Bedeutung hat: Das ist der Gesundheitsbereich. Sie senken die Steuern für wenige. Die oberen 50 Prozent zahlen fast das gesamte Steueraufkommen, weil die anderen 50 Prozent fast nichts haben. Wer die Einkommensteuer, wer die Lohnsteuer senkt, begünstigt also wenige. Sie erhöhen hingegen die Sozialabgaben, die alle zahlen müssen. Dies gilt auch für den Arbeitslosenversicherungsbeitrag; das sagen Sie nur heute noch nicht. Aber ich gebe dem Bundesfinanzminister gern Gelegenheit, vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen hier zu sagen, dass er in diesem Jahr und in dieser Legislaturperiode nicht am Arbeitslosenversicherungsbeitrag rütteln wird und dass dieser Beitrag nicht über das verabredete Maß hinaus erhöht wird.

(Beifall bei der SPD)

Dies hat ja der Kollege Friedrich hier für die CSU-Landesgruppe bestätigt.

Herr Bundesfinanzminister, ich frage Sie: Können Sie dies ausschließen, oder sehen Sie in der Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags die Sparbüchse, mit der Sie im Kern die Konsolidierung erbringen wollen? Dies bedeutete aber, dass Sie Binnennachfrage schwächen, weil der Arbeitslosenversicherungsbeitrag natürlich von jedem Arbeitnehmer gezahlt wird, und zwar vor allem von denjenigen, die am wenigsten verdienen, da es hier keine Progression gibt. Geringverdiener werden belastet, Spitzenverdiener werden entlastet. Das ist Ihre Politik.

(Beifall bei der SPD)

Sie ist nicht nur unter Verteilungsgesichtspunkten äußerst kritisch. Sie ist auch ökonomisch unsinnig, weil Sie bei einer schwächelnden Binnennachfrage gerade im unteren Einkommensbereich eine Entlastung, ein höheres verfügbares Einkommen stimulieren müssen, anstatt den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

(Ulrike Flach (FDP): Das tun Sie doch selber!)

Was wir im Gesundheitsbereich lesen müssen, geht ebenfalls in diese Richtung. Herr Minister Rösler, dass jemand, wenn er neu ins Amt kommt, zu Beginn nicht gleich sagen kann und will, was er wirklich machen wird, sei Ihnen unbenommen. Aber die ersten Entscheidungen, die hier getroffen werden, sind nicht im Sinne der 90 Prozent gesetzlich Versicherten. Sie sind klipp und klar ausschließlich im Interesse der 10 Prozent Privatversicherten und vor allen Dingen der Versicherungen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn jetzt der Zusatzbeitrag kommen wird ? die Krankenkassen haben dies angekündigt ?, dann denkt man doch: Zwar haben wir diese Möglichkeit geschaffen ? das stimmt ?, aber wäre Ulla Schmidt noch Gesundheitsministerin,

(Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): Oh, Ulla Schmidt!)

hätte sie als Erstes ein Sparprogramm auf der Ausgabenseite aufgelegt. Aber das betrifft ja Ihre Klientel. Die einzigen Maßnahmen, die Sie verabredet haben, sind vollkommen gegen den Wettbewerb: Sie wollen die Apotheker schützen, Sie wollen nicht mehr, dass die Menschen billiger zu ihren Arzneimitteln kommen, und Sie haben den Mann, der für die Qualität und die Kontrolle im Pharmabereich ? ein größerer Bereich als der Rüstungsbereich im Übrigen und viel lobbyanfälliger ? zuständig und in der Fachwelt anerkannt ist, angeschossen

(Jörg van Essen (FDP): Er hat sich doch selbst angeschossen!)

und wollen seinen Vertrag nicht mehr verlängern. Weil Sie die Interessen der Pharmaindustrie durchsetzen wollen, können Sie dort niemanden gebrauchen, der kritisch reinguckt. Dies ist nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, man kann nur verunsichert aus dieser Debatte gehen: verunsichert darüber, wie es in diesem Land weitergehen soll, verunsichert darüber, ob finanzielle Stabilität noch ein Wert ist, und verunsichert darüber, ob die Mehrbelastungen in der Bevölkerung nicht zu einem noch stärkeren Attentismus im Wirtschaftsbereich führen, was noch höhere Arbeitslosigkeit zur Folge hätte, wodurch letztendlich diese schwierige Situation noch mehr verschlimmert würde. Herr Schäuble, Sie haben die Gelegenheit, dies auszuräumen, insbesondere was den Arbeitslosenversicherungsbeitrag betrifft. Ein paar konkrete Zahlen wären heute sicherlich angebracht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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