Für die heutige Frankfurter Allgemeine Zeitung habe ich folgenden Beitrag verfasst:

Die größte weltanschauliche Gruppe in Deutschland sind mittlerweile die Konfessionsfreien: 34 Prozent der Bevölkerung gehören keiner Kirche an. In den vergangenen 20 Jahren sind pro Jahr im Durchschnitt rund 330 000 Menschen aus den beiden großen Kirchen ausgetreten. Auch die Quote der Taufen sinkt seit Jahrzehnten, ebenso die Zahl der Gottesdienstbesucher. Angesichts dieses Bedeutungsverlustes ist es beinahe paradox, wenn Vertreter von CDU/CSU in der Integrationsdebatte die angeblich „christlich-jüdische“ Prägung unseres Landes herausstreichen und die besonderen Rechtsbeziehungen zwischen Staat und großen Kirchen für sakrosankt erklären. Keinesfalls dürfe man das Staatskirchenrecht auf andere Religionsgemeinschaften übertragen, formuliert der CSU-Generalsekretär: „Ungleiches ist ungleich.“ Die Verfassungsväter hätten die Sonderstellung festgeschrieben, weil das „verfasste Christentum“ Wirtschaft und sozialen Zusammenhalt fördere.

Es sind verstörende Aussagen. Denn das Grundgesetz räumt in Artikel 140 allen Religionsgesellschaften ausdrücklich gleiche Rechte ein. Abgesehen davon, dass auch konfessionslose und andersgläubige Menschen einen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Wie sehr unser Land von Vielfalt und neuen kulturellen Einflüssen profitieren kann, beweist die deutsche Nationalmannschaft in jedem Spiel aufs Neue. Doch Vielfalt wird nur dann zu einem Gewinn, wenn alle Bürger als Gleiche und mit Respekt voreinander am Gemeinwesen teilhaben können, unabhängig von Glaube und Herkunft. Dieses Grundprinzip einer liberalen Verfassungsordnung hat FDP-Generalsekretär Christian Lindner jüngst in einem klugen Artikel „Eine republikanische Offensive“ verteidigt. Verwirklicht wird es nur, wenn der Staat sich weltanschaulich neutral verhält und keine gesellschaftliche Gruppe bevorzugt oder benachteiligt.

Von diesem Modell ist Deutschland weit entfernt. Zum einen müssen wir offener werden gegenüber anderen Konfessionen, etwa wenn es um ihre Rechte als Religionsgemeinschaften oder um religiöse Bekundungen in der Öffentlichkeit geht. Zum anderen gilt es, die vielen Vorrechte der großen Kirchen zu überprüfen. Das beginnt beim Religionsunterricht, der in den meisten Bundesländern ein versetzungsrelevantes Lehrfach darstellt. Zuständig für die Inhalte sind die Kirchen, die dafür ihre Dogmen zugrunde legen. Zeitgemäß wäre es, den „Bekenntnisunterricht“ durch einen gemeinsamen Unterricht aller Schüler in den weltanschaulichen Grundlagen unserer Kultur zu ersetzen. Unangemessen ist auch die staatlich subventionierte Priesterausbildung: Warum sollen die Bürger, von denen 70 Prozent keine Katholiken sind, katholisch-theologische Fakultäten bezahlen? Und wieso haben die Kirchen Einfluss auf die Besetzung von Professuren, die mit Steuergeld finanziert werden?

Hinzu kommen die direkten finanziellen Verquickungen zwischen Kirche und Staat. Von der Kirchensteuer einmal abgesehen, kommt der Steuerzahler für staatliche Alimente an die großen Kirchen auf – Entschädigungen für ehemaligen Kirchenbesitz, der in Staatsvermögen überging. Mehr als 200 Jahre liegt der Reichsdeputationshauptschluss mittlerweile zurück. Doch immer noch zahlen die Länder Dotationen in Höhe von derzeit 460 Millionen Euro jährlich für kirchliche Verwaltungskosten, Besoldung und die Versorgung von Geistlichen. Der Bund sollte endlich seinen grundgesetzlichen Auftrag aus Artikel 140 erfüllen und die Regeln für die Ablösung der Dotationen festlegen.

Die Liste dieser exklusiven Verbindungen ließe sich fortsetzen. Umgekehrt gibt es Bereiche, in denen der staatliche Einfluss auf die Kirchen zunehmen muss. Beispiel Arbeitsrecht: Alle Wohlfahrtsverbände – kirchliche wie nichtkirchliche – finanzieren sich zum größten Teil über „Leistungsentgelte“, sprich: über Gelder aus der Sozialhilfe sowie der Kranken- und Pflegeversicherung. Gleichzeitig nehmen die kirchlichen Organisationen für sich in Anspruch, ihre Mitarbeiter nach Religionszugehörigkeit auszuwählen – nicht nur leitende Angestellte, sondern auch Sachbearbeiter oder Erzieherinnen. Caritas und Diakonie berufen sich auf das „kirchliche Selbstverwaltungsrecht“ und den „Verkündungsauftrag der Kirche“. So schaffen sie eine doppelte Ungerechtigkeit: Erstens diskriminieren sie nichtchristliche Arbeitsuchende, zweitens finanzieren auch konfessionsfreie oder andersgläubige Steuer- und Beitragszahler die Verbreitung des christlichen Glaubens mit.

Es gibt keine Alternative: Um des sozialen Friedens willen muss das Verhältnis von Staat und Kirche neu ausbalanciert werden. Doch viel zu oft wird versucht, diese Diskussion schon im Keim zu ersticken. Dabei schaffen es auch andere gemeinnützige Organisationen, ohne staatliche Privilegien zu existieren – indem sie konsequent daran arbeiten, mehr Menschen für ihre Anliegen zu begeistern. So gesehen, könnte eine striktere Trennung von Kirche und Staat für die christlichen Kirchen eine Chance sein: als Anstoß für innerkirchliche Reformen.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Zur Dikussion über die Abwicklung der HRE habe ich für den heutigen Tagesspiegel folgenden Beitrag verfasst:

In den vergangenen zwei Wochen gab es zwei Meldungen zur Hypo Real Estate (HRE): Zum einen würden 40 Milliarden an zusätzlichen Garantien benötigt, zum anderen habe die Bank – trotz eines immensen Jahresverlustes von über zwei Milliarden Euro – 25 Millionen Euro an Boni ausgezahlt. Das war Geld der Steuerzahler. Nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch das zuständige Parlamentsgremium wurde von diesen Entscheidungen überrascht. Dabei kamen wir in der letzten Woche sogar zwei Mal zusammen. Für all diese Vorgänge trägt Finanzminister Wolfgang Schäuble die politische Verantwortung.

Das Ziel der Rettungsmaßnahmen, die der Bundestag im September 2008 beschlossen hat, war, das öffentliche Gut der Stabilität des Finanzmarktes und damit auch die Ersparnisse der Bevölkerung zu schützen.

Durch die Verflechtungen war das gesamte Bankensystem erheblichen Risiken ausgesetzt – wie Lehman in den USA eindrücklich belegte.

Die Rettung einzelner Banken ist dazu jedoch lediglich ein Instrument, nicht das Ziel selbst. Die HRE war im Begriff, der deutsche Lehman-Fall zu werden. Die Enteignung war deshalb richtig. Es war aber weder Ziel des staatlichen Eingriffs, die Bank dauerhaft zu behalten, noch mit immer neuen Steuermilliarden zu päppeln. Die Bundesregierung plant nun, knapp 200 Millarden Euro an derzeit unverkäuflichen Wertpapieren und nicht mehr notwendigen Geschäftsbereichen aus der HRE in eine Abwicklungsanstalt auszulagern. Die verbleibende Kernbank mit einer Bilanzsumme von etwa 150 Milliarden Euro und einem nicht erprobten Geschäftsmodell soll verkauft werden.

Die vollständige Übernahme der HRE wurde auch mit der günstigen Refinanzierung des Bundes begründet. Doch zeigt sich, dass der Markt der Bank diese Konditionen nicht gewährt und es sogar zusätzlicher Garantien des Bundes bedarf, um frisches Kapital zu erhalten. Dem Markt fehlt es an Vertrauen in die Bank, und er sieht keine Perspektiven.

Darüber hinaus stehen in den kommenden Jahren – unter anderem durch die Auflagen der EU-Kommission – zahlreiche Bankenverkäufe in ganz Europa bevor. Diese Übersättigung des Marktes muss zwangsläufig zu hohen Verlusten bei den erhofften Erlösen führen. Deutlich wird: Bei einem Verkauf der Bank kann nicht damit gerechnet werden, dass die Erlöse die Aufwendungen decken, die der Bund investiert hat. Solche Erlöse wären allenfalls denkbar, wenn es ein renditeträchtiges Geschäftsmodell gäbe. Um ein solches Geschäftsmodell zu entwickeln, müsste die Bank in erheblichen Umfang in die Rekrutierung von Bankern investieren, die mit entsprechenden Boni am Erfolg beteiligt werden wollen. Risikoreiche Geschäfte, die hohe Gewinne versprächen, darf der Bund als Eigentümer aber nicht verantworten. Schließlich ist es nicht Aufgabe des Staates, eine Geschäftsbank zu führen.

Daher plädiere ich für eine Abwicklung der Bank, auf weiteres Neugeschäft sollte verzichtet werden. Sollte die Schlussrechnung einen Verlust aufweisen, muss dies von den Finanzmarktakteuren getragen werden. Der Bund hat aufgrund von Marktversagen den Zusammenbruch des Finanzmarktes verhindert. Davon haben alle Akteure auf diesem Markt profitiert, auch zum Beispiel die Deutsche Bank und die Allianz.

Es ist deshalb gerechtfertigt, dass sie auch die Schlussrechnung zahlen. Der Steuerzahler darf davon jedenfalls nicht belastet werden.

(c) Tagesspiegel

Für die „Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte“ habe ich für die Ausgabe März 2010 folgenden Beitrag verfasst:

Noch ist die Kanzlerin keine 100 Tage im Amt, doch schon jetzt steht fest, dass Deutschland unter der „Wunschkoalition“ geschwächt aus der Wirtschafts- und Finanzkrise hervorgehen wird. Das Trauerspiel begann bei den Koalitionsverhandlungen: Die Bundeskanzlerin versäumte, sich mit ihrem Wunschkoalitionspartner über die Grundsatzfrage zu verständigen, welche Rolle sie dem Staat zubilligen wollen. Soll der Staat dem Markt im Interesse der Allgemeinheit künftig Grenzen setzen? Dann hätte Angela Merkel die FDP zu ideologischer Abrüstung zwingen müssen. Weit gefehlt. Ungebremst setzen die Liberalen „im Namen der Freiheit“ ihren Feldzug gegen den „teuren Schwächling“ Staat in der Regierung fort – Krise? Welche Krise?

Dabei wird die Finanz- und Wirtschaftskrise auch in dieser Legislaturperiode den Rahmen der Haushalts- und Finanzpolitik bilden. Durch die Krise steigt das gesamtstaatliche Defizit im Jahr 2010 auf 144,5 Milliarden Euro. Davon entfallen 86 Milliarden Euro auf den Bund, der schließlich den Löwenanteil der Kosten zur Krisenbewältigung trägt. Wie der Haushaltsabschluss für 2009 zeigt, wurde das zusätzlich aufgenommene Geld klug investiert. Die Konjunkturpakete und die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes haben den Abschwung deutlich abgefedert. Die Folge: Der Bund musste weniger Geld ausgeben als zwischenzeitlich geplant und statt 49 Milliarden Euro nur 34 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen.

Nach dem Krawall in der Koalition zum Jahreswechsel signalisieren einige Koalitionäre Bereitschaft, angekündigte weitere Steuersenkungen auf das Ende der Wahlperiode zu verschieben. Dabei gerät aus dem Blick, dass aufgrund der neuen Schuldenregel im Grundgesetz schon ohne zusätzliche Steuergeschenke erheblicher Konsolidierungsbedarf besteht. Laut Verfassung muss Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble jedes Jahr aufs Neue mindestens zehn Milliarden Euro einsparen – oder zusätzliche Einnahmen generieren. Die Entlastung der Arbeitgeber bei der Gesundheitsversicherung sind in dieser Rechnung noch ebenso wenig berücksichtigt wie das irrsinnige Betreuungsgeld oder die Neuverteilung der Umsatzsteuer zugunsten der Länder.

Wolfgang Schäuble muss endlich die Karten auf den Tisch legen und eine mittelfristige Finanzplanung vorlegen, die darstellt, wie der Bundeshaushalt konsolidiert werden soll. Für seine bisherige Untätigkeit gibt es nur zwei Erklärungen: Entweder hat er überhaupt kein Konzept, oder er will es bis nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen unter Verschluss halten, um sich vorher einer öffentlichen Diskussion über die wahren Ziele von Schwarz-Gelb zu entziehen. Beides ist nicht akzeptabel. Nicht zuletzt verunsichert der Finanzminister die wirtschaftlichen Akteure und gefährdet den Aufschwung in Deutschland.

Mit der Unterstützung der Steuersenkungskampagne der FDP macht sich Angela Merkel der Beihilfe zur Veruntreuung von Volksvermögen schuldig. Sie trägt die Verantwortung dafür, dass der Staat auf allen Ebenen abgewrackt wird und seine Funktionen – etwa bei der Sicherung von Chancengleichheit und der Daseinsvorsorge – nicht mehr erfüllen kann. Einige Lobbyisten und Besserverdiener profitieren zulasten der Mehrheit der Bevölkerung. Und mit dem Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung im Gesundheitswesen sowie mit der Einführung des „Bürgergeldes“, die in CDU und FDP vorbereitet wird, verabschiedet sich die Koalition sogar systematisch vom Solidarprinzip.

So verkommt die soziale Marktwirtschaft, die die Unionsparteien als Monstranz vor sich hertragen, zu einer leeren Begriffshülle. Zwar versucht Merkel weiter, die Bürger rhetorisch einzulullen, um sie in Sicherheit zu wiegen. Doch dass ihrer Politik zuvörderst ein machttaktisches Kalkül zugrund liegt, hat sie in der „Berliner Erklärung“ auf der Jahresanfangsklausur der CDU selbst offen zugegeben.

Kein Wunder also, dass sich die Menschen angesichts des wachsenden Schuldenbergs große Sorgen machen. Die ideologische Politik der Bundesregierung gefährdet in der größten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren das Vertrauen der Bürger in die Funktionsfähigkeit unseres politischen Systems. Dagegen steht die SPD wie keine andere Partei seit mindestens zehn Jahren für stabile öffentliche Finanzen. Allein die SPD will einen handlungsfähigen Staat, der gleiche Lebenschancen für alle Menschen garantiert. Denn: Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten. Diese Kompetenz werden wir als eines unserer zentralen Markenzeichen verteidigen. Die Menschen erwarten von der größten Oppositionskraft keine Wünsch-Dir-Was-Maßnahmenkataloge, sondern schlüssige politische Alternativen. Für einfache Antworten sind andere zuständig.

Damit Politik und Staat auch in Zukunft handlungsfähig bleiben, muss nach der Bewältigung der Krise die Konsolidierung Priorität erhalten. Weitere Einnahmeverluste für Bund, Länder und Gemeinden sind nicht vertretbar, schon gar nicht durch sozial ungerechte Steuersenkungen. Deshalb wird die SPD an ihrem bisherigen Kurs zur Krisenbewältigung festhalten. Zum einen geht es darum, die Auswirkungen der Krise auf die Menschen in unserem Land abzumildern. Zum anderen wollen wir die Ursachen bekämpfen, damit sich eine solche Krise nicht wiederholen kann. Unsere Leitlinie: Diejenigen, die die Krise herbeigeführt haben, müssen auch dafür haften. Und jene Akteure auf den Finanzmärkten, die von den staatlichen Rettungsmaßnahmen unmittelbar, aber auch mittelbar profitieren, müssen die Kosten tragen, die den öffentlichen Haushalten entstanden sind. Wir brauchen effektive, umfassende Regeln, um ein erneutes Versagen der Akteure auf den Märkten zu verhindern. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Präsident Barack Obama im erzliberalen Amerika jetzt eine Bankensteuer einführt, wie sie die SPD lange fordert. Nur Angela Merkel will weiter nichts davon wissen.

Ebenso verzagt agiert Schwarz-Gelb bei der Bekämpfung der Kreditklemme. Während die Banken ihre Risikovorsorge erhöhen und die Zahl der Unternehmensinsolvenzen steigt, heuert diese Regierung einen Kreditmediator an, der erst Anfang März seine Arbeit aufnimmt, aber gar keine Entscheidungsbefugnisse hat. Auch hier zeigt sich: Diese Koalition kennt kein Maß und keine Mitte. Es ist die falsche Regierung zur falschen Zeit.

(c) Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte

Für den heutigen „Der Freitag online“ habe ich folgenden Beitrag verfasst:

Vielen Abgeordneten stand das Entsetzen noch ins Gesicht geschrieben, als sich die SPD-Bundestagsfraktion am 29. September zu ihrer ersten Sitzung nach der Wahl einfand. Mit einem derart niederschmetternden Ergebnis hatte niemand gerechnet. Schließlich hatten wir die Mehrheit der Bürger bei unseren zentralen politischen Themen wie Mindestlöhnen oder Atomausstieg auf unserer Seite gehabt. Und anders als bei den Bundestagswahlen 2005 war der SPD an ihren Infoständen kaum Unmut entgegengeschlagen, wie viele Kollegen einhellig berichteten.

Zwei Monate nach dem Schock vom 27. September ist in der SPD eine Debatte über die Deutung des Wahldebakels entbrannt. Welche Interpretation sich am Ende durchsetzt, entscheidet mit über den künftigen Kurs der SPD. Nach der einen Lesart sollte die SPD wieder gezielt ihre Stammklientel ansprechen und ihre großen Sozialreformen der vergangenen Jahre nachträglich als Fehler deklarieren, um enttäuschte Wähler zurückgewinnen – und anschlussfähig zu werden in Richtung Linkspartei. Ich dagegen bin überzeugt, dass diese Strategie der SPD lange Wanderjahre in der Opposition bescheren und eine schwarz-gelbe Hegemonie auf Jahre manifestieren würde. Die Verfechter eines Linksrucks gehen schlankerhand über die Tatsache hinweg, dass die SPD bei der Bundestagswahl laut der Analyse von Wahlforschern zwar 1,1 Millionen Wähler an die Linkspartei verlor, aber die weit größeren Verluste in der politischen Mitte der Gesellschaft verzeichnete: Rund 1,4 Millionen wechselten in das selbsternannte „bürgerliche“ Lager zu Union und FDP, 870.000 zu den Grünen, und 2,1 Millionen wurden zu Nichtwählern.

in der Mitte ist die Konkurrenz am härtesten

Die SPD kann die Wähler, deren Vertrauen sie verloren hat, nicht zurückgewinnen, indem sie einer dieser Wählergruppen hinterherläuft – genau darin besteht ihr Dilemma. Stattdessen muss die SPD für alle diese Menschen und Gruppen wieder attraktiver werden. Anders formuliert: Sie muss ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft verteidigen, die verloren gegangenen Randbereiche der Mitte zurückerobern und gleichzeitig ihre Stammklientel mobilisieren.

Die „Mitte“ mag ein soziologisch unscharfer Begriff sein. Niemand kann so genau sagen, wie sich diese Mitte zusammensetzt, wie sie sich verändert, wie sie tickt. Und sie ist ein politisch umkämpfter Begriff: Jeder reklamiert die Mitte für sich, mal als „Neue Mitte“, mal als „linke Mitte“, mal einfach als „Die Mitte“. Aber der Begriff ist genau deswegen so umkämpft, weil die Konkurrenz dort am härtesten ist, weil dort die Wahlen letztlich immer noch gewonnen werden. Auch den großen Erfolgen der Sozialdemokratie in der Vergangenheit ist stets eine Öffnung hin zur Mitte der Gesellschaft vorausgegangen – hin zu jenen gesellschaftlichen Gruppen, „die das Land prägen, ökonomisch, sozial und kulturell“ (Frank-Walter Steinmeier). Das gilt auch für die historischen Wahlsiege Gerhard Schröders und Tony Blairs, die jeweils unerträglich lange Phasen der Opposition beendeten.

Soziale Gerechtigkeit allein ist zuwenig

Diesmal muss die Phase der Opposition keineswegs so lange dauern. Denn ungeachtet des schlechten Wahlergebnisses steht die SPD programmatisch tatsächlich in der gesellschaftlichen Mitte. In Deutschland existiert eine „solidarische Mehrheit“, die mehr soziale Gerechtigkeit will, eine gute Gesundheitsversorgung für alle und keine Zwei-Klassen-Medizin, faire Löhne und Mindestlöhne, keine Steuersenkungen auf Pump, Chancengleichheit und bessere Schulen – all das sind sozialdemokratische Kernanliegen. Jedoch: Es wird nicht reichen, nur den Markenkern „soziale Gerechtigkeit“ zu stärken. Denn die meisten Bürger sind sich zugleich darüber im Klaren, dass jeder Euro, den der Finanzminister ausgibt, erst erwirtschaftet werden muss. Und dass nicht der Staat Arbeitsplätze schafft, wissen die Arbeiter, die Angestellten und die kleinen Selbständigen ebenfalls sehr genau. Will die SPD wieder Wahlen gewinnen, muss die SPD soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Dynamik gleichermaßen verkörpern. Gerhard Schröder brachte diese Erkenntnis 1998 auf die erfolgreiche Formel „Innovation und Gerechtigkeit“. Mit diesem Slogan mobilisierte die SPD ihre Stammwähler, erschloss neue Wählerschichten in der Mitte – und erhielt am Ende 40,9 Prozent der Stimmen.

Im Jahr 2009 lag die SPD bei der Kompetenzzuschreibung der Wähler auf dem Gebiet „Wirtschaft voranbringen“ hoffnungslos hinter der Union zurück (21 zu 47 Prozent). Nur 38 Prozent der Wähler stimmten der Aussage zu, die SPD habe gute Ideen für neue Arbeitsplätze. Wohl auch aus diesem Grund haben deutlich mehr Arbeiter und Angestellte für die CDU/CSU gestimmt, als für die SPD. Allem Anschein nach schaffen es die Sozialdemokraten nicht, in der größten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren, nach dem grandiosen Scheitern der marktradikalen Ideologie, als glaubwürdige Vertreter einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik wahrgenommen zu werden. Dabei entsprechen ihre wirtschaftspolitischen Grundpositionen – Nachhaltigkeit, langfristiges Wachstum, handlungsfähiger Staat – wie nie zuvor dem Zeitgeist. Auch hat sich in der Krise die sozialdemokratische Philosophie des „Dritten Weges“ bewahrheitet: Weder der Markt noch der Staat können allein erfolgreich agieren; beide Seiten müssen in einer vernünftigen Balance stehen.

Lehrstück Opel

Aus meiner Sicht beschränkt sich die SPD in der Wirtschaftspolitik allzu oft auf Einzelforderungen („Mindestlöhne!“), auf Beschimpfungen der Gegenseite („Schwarz-Gelb steht für soziale Kälte!“) – oder auf Abwehrreaktionen gegen die Globalisierung („Das ist mit uns nicht zu machen!“). Die Rettungsaktion für Opel im Wahlkampf ist ein lehrreiches Beispiel. Während sich Freiherr zu Guttenberg als strenger Ordnungspolitiker profilierte, konnte die SPD aus ihrer Forderung nach Milliardenhilfen aus dem Staatshaushalt kaum Kapital schlagen. Zusätzliche Wählerstimmen gab es noch nicht einmal in Rüsselsheim. Auch nicht in Bochum, nicht in Kaiserslautern, nicht in Eisenach. Denn die Bürger wussten, dass die zentralen Entscheidungen in Übersee gefällt wurden, und nicht in Berlin. Sie spürten, dass es in einer Branche mit enormen Überkapazitäten zwangsläufig zu strukturellen Veränderungen kommen wird. Überdies kannten sie die riesigen Löcher im Staatshaushalt. Bis heute spricht sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung gegen Staatshilfen für Opel aus.

Wo ist das positive Leitbild der SPD?

Offensichtlich erwartet die gesellschaftliche Mitte von der SPD mehr als den bloßen Bau von Trutzburgen gegen die Kräfte der Märkte. Dringend notwendig wäre, dass die SPD ein eigenes positives Leitbild vertritt, wie wir angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wirtschaften sollten: Viel häufiger als bisher sollten Sozialdemokraten auch von den Chancen der Globalisierung sprechen, von Zukunftsbranchen wie den Alternativen Energien, in denen neue Arbeitsplätze entstehen, von einem handlungsfähigen Staat, der reguliert und fördert, und von vorsorgender Sozialpolitik, die die Menschen im unvermeidlichen Strukturwandel stärken und unterstützen kann. Diese Ziele können wir allerdings nur erreichen, wenn wir die Globalisierung gestalten, anstatt sie zu bekämpfen. Dafür wiederum brauchen wir internationale Partner. Die SPD kann nur dann glaubhaft eine progressive Wirtschaftspolitik vertreten, wenn sie offensiver als bisher Verbündete in Europa und in der Welt sucht. Ein wichtiger Schritt wäre es, mit den übrigen sozialdemokratischen Parteien Europas enger zusammenzuarbeiten.

Anpassung an die Linkspartei ist ein Irrweg

Eine solche optimistische wirtschaftspolitische Erzählung, die auf die Mitte der Gesellschaft zielt, ist in Deutschland auch deshalb eine Marktlücke, weil Union und FDP eben jene haushaltspolitisch unseriöse und volkswirtschaftlich wirkungslose Klientelpolitik betreiben, vor der die SPD im Wahlkampf gewarnt hat. Und nicht zuletzt wäre eine solche sozialdemokratische Strategie der Mitte auch für ein rot-rot-grünes Bündnis förderlich. Denn die Linkspartei hat nur eine einzige Chance, an die Regierung zu kommen: Sie muss mit der SPD koalieren. Die SPD kann immer auch anders. Igelte sich die SPD in ein „linkes Lager“ ein, würde sie nicht nur ihre günstige Mittelstellung im Mehrparteiensystem aufgeben, sondern auch den Druck von der Linkspartei nehmen, endlich weltfremde Positionen zu räumen – und damit überhaupt erst Regierungsfähigkeit zu erlangen.

Die umgekehrte Anpassung der SPD an Lafontainesche Positionen wäre hingegen schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil die Grünen dieses Spiel nicht mitmachen würden. Einmal abgesehen davon, dass ein solches Bündnis überhaupt nur dann mehrheitsfähig werden kann, wenn sich die potenziellen Partner auf eine gewisse Arbeitsteilung verständigen. Will die SPD im Jahr 2013 die Option haben, mit Linkspartei und Grünen zu koalieren, darf sie die Mitte nicht aufgeben.

(c) Der Freitag online