Schon im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD wurde vereinbart, in dieser Wahlperiode Gespräche über eine zukunftsfeste Neuordnung der Finanzbeziehungen mit dem Ziel zu führen, die Handlungsfähigkeit aller staatlichen Ebenen in allen Regionen zu sichern. Seit dem Beschluss der gemeinsamen Konferenz der Regierungschefs von Bund und Ländern am 12. Juni 2014 haben die Länder nach fast 18 Monaten zu einer gemeinsamen Positionierung gefunden.
Dieser von den Ländern am 3. Dezember 2015 vorgelegte Vorschlag muss nun mit der gebotenen Sorgfalt und vor dem Hintergrund der entsprechenden fiskalischen und verfassungsrechtlichen Konsequenzen bewertet werden. Weder eine Alles-oder-nichts-Lösung noch ein Gesetzgebungsverfahren unter Zeitdruck oder aufgrund einer situationsbezogenen Analyse wäre der Tragweite der Entscheidung angemessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die bisherigen Bund-Länder-Gespräche ausschließlich mit Vertretern der Exekutive geführt wurden; eine Einbindung des Bundestages wurde hingegen explizit vermieden.
Die Rahmenbedingungen einer Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen sind alles in allem vielfältig: So ist die finanzielle Leistungsfähigkeit der Länder aber eben auch des Bundes sicherzustellen. Besondere Bedeutung kommt der Herausforderung der Zuwanderung zu, deren — nationale wie internationale — Bewältigung erhebliche Ressourcen binden wird. Für diese Aufgabe, aber auch schlicht zur Einhaltung der Schuldenbremse wird Haushaltsdisziplin wichtiger denn je sein. Raum für sonstige Begehrlichkeiten besteht nicht.
Dennoch wird im Vorschlag der Ministerpräsidenten dem Bund künftig eine stärkere, dynamisch angelegte Rolle beim Ausgleich der Finanzkraft zwischen den Ländern zugewiesen. Hierdurch würde die finanzielle Leistungsfähigkeit des Bundes dauerhaft erheblich beeinträchtigt. Gleichzeitig entzögen sich die finanzstarken Länder ihrer Verantwortung, zu einem angemessenen Ausgleich zwischen den Ländern weiter gebührend beizutragen. Aus dem Länderfinanzausgleich würde ein Bund-Länder-Finanzausgleich. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht stets betont, dass die Ergänzungszuweisungen des Bundes nur komplementär zum horizontalen Ausgleich angelegt sind und nicht als Ersatz. Im Rahmen des vorliegenden Ländervorschlages hingen die finanzschwachen Länder künftig in einem noch höheren Maße als bisher von finanziellen Zuweisungen des Bundes ab. Dies kann im Extremfall zu einer Entwicklung führen, die die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland in Frage stellen oder die Eigenstaatlichkeit der Länder aushöhlen könnte.
Das Volumen des horizontalen Finanzausgleichs sollte deshalb gegenüber dem Status quo nicht wesentlich zurückgehen. Auch darf eine vermeintlich größere Transparenz nicht substantiell zu Lasten des solidarischen Ausgleichs erkauft werden. Daneben sollte die Neuordnung genutzt werden, um den Bund in der Steuerverwaltung zu stärken: dies eilt sowohl für IT Belange als auch Prüfmöglichkeiten. Neben effizienteren Verwaltungsmechanismen kann damit auch ein einheitlicherer und gerechterer Steuervollzug erreicht werden. Inwieweit weitere Zentralisierungen sinnvoll sein könnten, gilt es in Ruhe zu prüfen. Maßstab sollte eine klare Verantwortungszuordnung, aber auch höhere Transparenz sein.
Fest steht, die im Grundgesetz verankerte Zuständigkeit der Länder für eine ausreichende finanzielle Ausstattung ihrer Kommunen muss gewährleistet bleiben. Die Länder stehen auch in der Verantwortung, Entlastungsmittel des Bundes vollständig und zusätzlich an die Kommunen weiterzuleiten. Die Neuordnung darf nicht zu Lasten der Kommunen gehen. In diesem Zusammenhang ist auch zu entscheiden, wie die im Koalitionsvertrag vereinbarte strukturelle Entlastung der Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro finanzschwache Kommunen erreichen kann.
Deutschland steht vor enormen Herausforderungen. Wir werden das nur gemeinsam schaffen, mit einem auf allen Ebenen handlungsfähigen Staat. Zu berücksichtigen ist, dass derzeit alle Ebenen von gestiegenen Steuereinnahmen profitieren; die Länder sogar stärker als der Bund. Die kommenden Monate sollten dazu dienen, in Ruhe zu überlegen, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann. Dabei gilt, was nicht oft der Fall ist: Wir haben Zeit, lasst sie uns nutzen!

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wenn der Gast aus Hessen oder Schwaben anlässlich eines gemeinsamen Spaziergangs durch die Erfurter Altstadt ins Schwärmen gerät, wie wunderschön die Gebäude und Straßen hier dank seines „Solis“ nun wieder aussähen, muss man ruhig bleiben. Denn in der Regel will er gar nicht so genau wissen, dass auch Ostdeutsche den „Soli“ zahlen und die Einnahmen daraus auch nur zum Teil in die hiesige Infrastruktur fließen.

Weißt man ihn oder sie dennoch darauf hin und fügt gar freundlich hinzu, dass die wenigsten der nun schönen Häuser noch einem Ostdeutschen gehören, kann so eine Freundschaft schnell unter Spannung geraten.

Aber Politik bedeutet ja bekanntlich das Bohren dicker Bretter. Das gilt für die Finanzpolitik insbesondere, zumal wenn es um die grundlegende Verteilung der öffentlichen Einnahmen zwischen Bund und Ländern geht. Eine rechtliche Neugestaltung soll noch in dieser Wahlperiode gelingen, da die derzeit geltenden Regelungen zum Länderfinanzausgleich sowie der Solidarpakt II zur Unterstützung der ostdeutschen Länder Ende 2019 auslaufen.

Doch die Gemengelage ist kompliziert, die Interessen fallen weit auseinander. Die in Karlsruhe anhängigen Klagen von Bayern und Hessen gegen den Länderfinanzausgleich dürften dabei noch die bekanntesten Zuspitzungen sein.

Im Kern läuft die Argumentation stets auf eine vermeintliche Wettbewerbsverzerrung hinaus, die bestehe, wenn die „fleißigen“ Geberländer die „faulen“ Nehmerländer dauersubventionierten. Damit entfiele der Anreiz, in den Ländern höheres Steueraufkommen zu generieren, ganz so als gäbe es für die Ungleichheiten keine historisch gewachsenen Gründe.

Im Zuge der Massenentlassungen in den 90er-Jahren waren die neuen Länder mit immensen Sozialausgaben konfrontiert, während zeitgleich junge, sehr gut ausgebildete Fachkräfte massenweise gen Westen zogen, um dort die regionale Wertschöpfung zu steigern.

Zum örtlichen Steueraufkommen in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg dürften mittlerweile zahlreiche im Osten ausgebildete Facharbeiter, Ingenieure, Ärzte oder Altenpflegerinnen einen beachtlichen Beitrag leisten.

Dem Osten bleiben neben den um ein Vielfaches niedrigeren Steuereinnahmen trotzdem die weit überdurchschnittlichen Sozialausgaben.

Der demografische Wandel wird das Missverhältnis zwischen Leistungsempfängern und Steuerpflichtigen nochmals verschärfen. Doch auch für eine älter und zahlenmäßig kleiner werdende Bevölkerung muss die öffentliche Hand Mobilität, Gesundheitsversorgung und kommunale Einrichtungen finanzieren.

Wenn also die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ im Bundesgebiet, von der das Grundgesetz spricht, nicht zu einer reinen Fiktion verkommen soll, müssen die Bundesländer auch über das Jahr 2019 hinaus finanziell so ausgestattet werden, dass sie ihre gesetzlichen Aufgaben ohne Neuverschuldung erfüllen können. Dazu ist ein faires Ergebnis notwendig, dass den ostdeutschen Ländern ihre Würde lässt und sie nicht zu Bittstellern des Bundes degradiert.

Wenn aber etwa bayerische CSU-Politiker in zünftigen Bierzeltreden vom „gepäppelten“ Osten schwadronieren, dann sollten sie dazusagen, in welchem Ausmaß auch ihre Kommunen und Unternehmen von der Wiedervereinigung bis heute profitieren.

Wir Thüringer wissen etwa die schnellen Autobahnverbindungen A 71 und A 73 nach Franken zu schätzen, aber das gilt auch umgekehrt. Und wenn die ICE-Verbindung von Berlin über Erfurt in Betrieb genommen wird, profitieren davon auch München, Nürnberg oder Ingolstadt ganz erheblich.

Die wirtschaftliche Spaltung des Landes ist noch immer auf jeder statistischen Landkarte in den Umrissen der alten DDR erkennbar: seien es die niedrigeren Löhne, das geringere Steueraufkommen, die höhere Arbeitslosigkeit oder die im Vergleich zum Westen kaum messbaren Vermögen.

Trotz alledem sind wir auch stolz auf die Entwicklung Thüringens und die erstrittene Freiheit, unser Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können.

Sollte der Finanzausgleich unter den Ländern aber so verändert werden, wie sich das die CDU-geführten Klageländer Hessen und Bayern vorstellen, dann würde Deutschland nicht zusammenwachsen, sondern gespalten werden: in reiche Regionen mit höheren sozialen Standards und besseren staatlichen Dienstleistungen dort sowie klamme Kommunen mit immer weniger Handlungsspielraum hier.

So würden, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, Kindererzieher in Erfurt auch in Zukunft deutlich weniger verdienen. Trotzdem müssten die Eltern hohe Gebühren für die Betreuung ihrer Kinder zahlen, weil Städte und Gemeinden in Thüringen nicht mehr in der Lage wären, ihre beträchtlichen Zuschüsse für die Kindergärten aufrechtzuerhalten.

So ein Land will ich nicht.

(c) Thüringer Allgemeine

Wer Vermögen erbt oder geschenkt bekommt, hat dafür keine eigene Leistung erbracht. Es ist sozial gerecht, diesen Vermögensübergang auf künftige Generationen zu besteuern. Für Ehepartner, Kinder und Enkel bleiben hohe Freibeträge, auch für Omas berühmtes Häuschen. Daran ändert sich nichts. Gleichwohl dürfen wir nicht hinnehmen, dass über Generationen hinweg immer höhere Vermögen bei immer weniger Personen aufgehäuft werden und die soziale und gesellschaftliche Vermögensungleichheit weiter verschärft wird. Das betrifft vor allem die Erwerber großer Betriebsvermögen und Unternehmensteile.

Bei der Erbschaftssteuer unterscheiden sich die Vorstellungen von SPD und Konservativen grundsätzlich. Daher konnten wir uns im Koalitionsvertrag nur darauf verständigen, dass die Erbschaftsteuer in ihrer jetzigen Ausgestaltung den Generationswechsel in den Unternehmen ermöglicht und Arbeitsplätze schützt. Sie soll den Ländern als wichtige Einnahmequelle erhalten bleiben.

Wir hätten nichts mit der Union bewegen können, wenn nicht Karlsruhe gekommen wäre. Hintergrund des aktuellen Gesetzentwurfs ist nämlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2014, in dem einige Vergünstigungen und Steuererleichterungen – vor allem für die Erben und Beschenkten von großen und sehr großen Unternehmen (oder Teilen davon) – als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt wurden.

Mit anderen Worten: Es muss künftig weniger Ausnahmen geben, mehr Kontrollen und mehr Besteuerung. Das wird auch im Sondervotum des Gerichts deutlich, im dem das Sozialstaatsprinzip zu Recht besonders in Erinnerung gerufen wird: Die Erbschaftsteuer sei ein Beitrag zur Herstellung sozialer Chancengleichheit, die sich in einer freien Ordnung nicht von selbst herstelle. Würden gerade diejenigen verschont, die als Unternehmer über die größten Vermögen und damit auch über erheblichen Einfluss auf das Gemeinwesen verfügen, und würde gerade ihnen ermöglicht, dieses Vermögen unter Befreiung der sonst nach Leistungsfähigkeit auferlegten Lasten an Dritte, insbesondere an Familienmitglieder, weiterzureichen, ohne dass diese hierfür eigene Leistung oder Fähigkeiten eingebracht hätten, verfestige und verstärke dies die ökonomische Ungleichheit.

Das sollten alle die Lobbyverbände beherzigen, die jetzt laut schreien. Noch nie musste ein Betrieb in Deutschland aufgrund der Erbschaftsteuer schließen. Die gerechtfertigte Begünstigung beim Übergang von Betriebsvermögen findet sich dort – und nur dort –, wo es um den Erhalt von Arbeitsplätzen geht.

Das zentrale Anliegen der SPD ist eine gerechte Besteuerung von reichen Erben und der Schutz von Arbeitsplätzen bei Firmenübergängen. Das Eckpunktepapier von Bundesfinanzminister Schäuble vom Februar dieses Jahres hat das abgebildet und wurde deshalb von uns begrüßt. Auch wenn der Kabinettentwurf in einigen Punkten von den ursprünglichen Eckpunkten abweicht, werden unsere grundsätzlichen Ziele mit dem Entwurf noch erreicht:

  • Bei Erbschaften und Schenkungen großer und sehr großer Betriebsvermögen gibt es künftig keine automatische Begünstigung bei Betriebsfortsetzung mehr. Zunächst einmal wird ab der Freigrenze die Steuer festgesetzt. Begünstigt werden kann nur der Erwerber, der die Arbeitsplätze erhält und zugleich bedürftig ist, d. h. die Steuer nicht zahlen kann, ohne den Betrieb zu gefährden. Für die Zahlung der Steuer muss künftig – dieser Punkt ist uns sehr wichtig – auch das Privatvermögen einbezogen werden. Missbrauchsmöglichkeiten und Schlupflöcher werden geschlossen, es zählt nur noch das betriebsnotwendige Vermögen.
  • Erben von Kleinstbetrieben bis drei Mitarbeiter bleiben von der Steuer verschont, wenn sie den Betrieb fortsetzen. Das sind knapp 75 Prozent aller Betriebe in Deutschland.

Und es ist uns gelungen, den Gesetzentwurf noch zu verbessern:

  • Bei der Prüfung der Bedürftigkeit, ob große Erbschaften begünstigt werden können, wenn der Betrieb fortgeführt wird und die Arbeitsplätze erhalten werden, liegt die Bemessungsgrenze zwar etwas höher, wir sorgen aber dafür, dass sehr große Vermögen stärker als im Referentenentwurf vorgesehen zur Kasse gebeten werden, weil dann nur noch ein Fünftel der Erbschaft begünstigt werden kann. Ist kein Privatvermögen vorhanden, gibt es künftig erst einen Rechtsanspruch auf Stundung, bevor die Steuer erlassen wird.
  • Wir haben außerdem durchgesetzt, dass der Betriebsübergang für den Mittelstand leichter wird. Auch Betriebe bis 15 Mitarbeiter werden nun bei der Lohnsumme begünstigt. Das sichert Flexibilität für viele mittlere Handwerksbetriebe und zugleich Arbeitsplätze.

Alle weiteren Forderungen der Union, die darauf hinaus laufen, das Steueraufkommen auszuhöhlen und große Vermögen zu privilegieren, haben wir abgelehnt. Sie werfen teilweise auch gravierende verfassungsrechtliche Bedenken auf, die wir in der Tat gewissenhaft prüfen müssen.

Aber: Es wird mit uns keine Einschränkungen der Bemessungsgrundlage und keine Ausweitung des begünstigungsfähigen Vermögens geben. Die im Entwurf vorgesehenen Regelungen, die Umgehungsmöglichkeiten und Missbrauch verhindern sollen, werden wir nicht verändern. Der Koalitionsvertrag ist eindeutig: Zweck der Begünstigungen ist ausschließlich der Schutz von Arbeitsplätzen.

Wichtig ist, dass wir jetzt eine Grundlage für die Beratungen im Bundestag haben, denn wir wollen zügig Rechtssicherheit auch für die Unternehmen schaffen. Für das weitere Verfahren gilt wie immer das Strucksche Gesetz. Wir wissen, dass in dieser Koalition weder wir noch die Union ihr jeweiliges Wunschmodell durchsetzen kann. Verschlechterungen am Gesetzentwurf, die dazu führen, dass die genannten Ziele nicht mehr erreicht werden, wird es mit der SPD aber nicht geben.

(c) vorwärts

Unter der Überschrift „Eis lecken und andere Reflexe“ zitiert Martin Debes in seinem „Zwischenruf“ einen Post, den ich nach dem Neonazi-Überfall auf die Maikundgebung in Weimar (die TA berichtete) im Netz veröffentlicht habe. Noch unter dem Eindruck der gerade erlebten Aggressivität und Gewaltbereitschaft fielen mir die zahlreichen, scheinbar „sorglosen“ Spaziergänger in der Altstadt auf, die das sonnige Wetter genossen. Vielleicht war ich sogar ein wenig neidisch. Gleichwohl erinnerte mich der Gegensatz doch sehr an die Zeit des „Biedermeier“ im 19. Jahrhundert, als sich weite Teile des Bürgertums bewusst aus der politischen Auseinandersetzung in das private Refugium zurückzogen.

Nun mag es sein, dass die Formulierung im Eifer des Gefechts zu pauschal und zugespitzt geraten ist. Mit entsprechendem Interpretationswillen kann man darin sogar, wie der Autor, „Wählerbeschimpfung“ erblicken. Das sollte einem echten „Biedermeierberufspolitiker“, wie mir Herr Debes gleichsam attestiert, keinesfalls passieren.

Wie auch immer, die Sorge um die demokratische Kultur im Land bleibt. Wenn sich immer mehr Menschen aus den öffentlichen Diskursen zurückziehen, gewinnen die Feinde der Demokratie durch Gewalt und martialisches Auftreten eine Deutungshoheit, die ihnen nicht zusteht. Um es klar zu sagen: Es geht mir dabei nicht um staatlich verordnetes Demonstrieren a la DDR und auch nicht primär um „links“ oder „rechts“, sondern in erster Linie um eine selbstbewusste und wache Bürgergesellschaft. Was passieren kann, wenn sie zu lange weg schaut, lässt sich gerade in Weimar gründlich studieren. Die Vorfälle am 1. Mai bestärken mich jedenfalls im Engagement für eine starke demokratische Öffentlichkeit, auch und insbesondere in der Auseinandersetzung mit den „Lehren aus Weimar“. Der noch junge Verein „Weimarer Republik e. V.“ bietet hierfür zum Beispiel eine ideale, parteiübergreifende Plattform.

Für Journalisten und Politiker gehören schnelle Pointen und provokante Thesen heute zum Tagesgeschäft und beide schießen dabei immer mal wieder über das Ziel hinaus. Es bleibt aber unabdingbar, dass die demokratische Mehrheit selbstbewusst bleibt und ihre Straßen und Plätze nicht den Ideologen von gestern und vorgestern überlässt. Denn eine offene Gesellschaft muss ihre Grundlagen am Ende immer selbst verteidigen.

Darin, lieber Martin Debes, sind wir uns sicher einig. Wir können das auch gerne bei einem Eis vertiefen! Ich lade Sie herzlich ein.

(c) Thüringer Allgemeine

„Alle reden von Arbeit, dabei wäre den meisten Menschen schon mit Geld geholfen.“ Mit dieser kabarettistischen Einlage brachte der großartige Dieter Hildebrandt sein Publikum zum Lachen. Was dem Künstler zur Pointe diente, wird allerdings seit geraumer Zeit als ernsthafte sozialpolitische Idee debattiert: das sogenannte „bedingungslose Grundeinkommen“.

Anstelle der bisherigen Leistungen aus den unterschiedlichen Sozialversicherungen und sozialen Hilfesystemen soll es demnach für alle Bürger eine staatliche Einkommensgarantie geben, unabhängig von konkreter Bedürftigkeit oder Arbeitsbereitschaft. 1.000 Euro für die alleinerziehende Mutter in Neukölln ebenso wie für den kinderlosen Bankdirektor in Schwäbisch Gmünd. Gleiches Recht für alle, pauschale Auszahlung, keine Einzelfallprüfungen mehr, keine Antragsformulare, das Ende der paternalistischen Sozialstaatsbürokratie.

So jedenfalls lauten die Verheißungen. Dabei wird – wenn man so will – nur ein engagierter Paternalismus gegen einen gleichgültigen ausgetauscht. Denn das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist naturgemäß blind gegenüber individuellen Bedarfslagen und den mannigfachen Schicksalsschlägen des Lebens. Der Staat zahlt die monatliche Einheitsprämie an seine Bürger und kauft sich damit frei von weitergehenden Einstandspflichten. Doch selbst die leidenschaftlichsten Befürworter eines unbedingten Grundeinkommens müssen eingestehen, dass die gesamtwirtschaftlichen Effekte einer so gigantischen Verschiebung des Volkseinkommens insbesondere im Hinblick auf den Arbeitsmarkt und die allgemeine Preisentwicklung nicht absehbar sind. Ehe wir aber auf dem Altar der romantischen Freiheit einen staatlichen und ökonomischen Kollaps riskieren, sollten wir uns besser um einfache Antragsverfahren und transparente Anspruchsprüfungen im geltenden Sozialsystem bemühen.

Das dürfte zumindest der alleinerziehenden Mutter in Neukölln tatsächlich weiterhelfen, während der Bankdirektor wohl auch künftig keine Transferleistung benötigt.

(c) vorwärts

Seit einem halben Jahrzehnt hält uns die Eurokrise in Atem. Noch immer ist der Zusammenhalt der Eurozone bedroht. Seit dem Ausbruch der Finanzmarkt- und später der Refinanzierungskrise einiger Staaten wurde Zeit gekauft – durch die Rettungsschirme und die Zentralbanken. Aber diese Zeit ist nicht ausreichend genutzt worden. Die Europäische Zentralbank (EZB) spielt noch immer die Rolle der „Feuerwehr“, gleichzeitig nimmt die Bereitschaft für neue Rettungspakete in Ländern wie Deutschland ab. Noch hält der über Jahrzehnte gewachsene pro-europäische Grundkonsens den Euro zusammen. Jedoch: Wie lange kann das noch gut gehen?

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, und kaum etwas bestimmt das derzeitige politische Bewusstsein so stark wie die Arbeitslosenquote und die wirtschaftliche Entwicklung. Aus Gründen der europäischen Vergleichbarkeit nennen wir hier die Zahlen von Eurostat: Die Arbeitslosenquote beträgt in der Eurozone durchschnittlich etwa 11 Prozent. Dies entspricht der Arbeitslosenquote in Deutschland vor zehn Jahren, als die deutsche Sozialdemokratie in einem existenziellen Kraftakt notwendige Reformen auf den Weg brachte. Heute liegt die Arbeitslosigkeit in Deutschland bei unter fünf Prozent. In Spanien beträgt sie 22 Prozent, in Griechenland sogar 25 Prozent. Was das gesellschaftlich bedeutet, wissen wir in Deutschland nur zu gut – und zwar aus Ostdeutschland in der Nachwendezeit.

Unser Werben für etwas mehr Verständnis und Geduld unter den Mitgliedern der Eurozone darf nicht als Versuch missverstanden werden, das Prinzip der Eigenverantwortung außer Kraft zu setzen. Immer noch gilt, dass die Probleme eines jeden Landes der Eurozone in erster Linie hausgemacht sind und deshalb in erster Linie vor Ort gelöst werden müssen. Eine Alternative dazu gibt es nicht.

Allerdings müssen wir eine wichtige Einschränkung beachten, die trotz ihrer Dramatik leider noch immer kein Allgemeingut ist: Die klassische makroökonomische Aufgabenverteilung im Euro-Raum sieht vor, dass alle Länder ihre eigenen Hausaufgaben zu machen und sich insbesondere an die Defizitregeln zu halten haben. Falls dies in der Summe dazu führen sollte, dass die gesamtwirtschaftliche Aktivität zu stark abgebremst wird, schreitet die Geldpolitik ein und senkt die Zinsen. Damit sichert sie das Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent und stabilisiert gleichzeitig die Gesamtnachfrage.

In normalen Zeiten funktioniert diese Aufgabenverteilung zwischen Geld- und Fiskalpolitik. In einer Währungsunion, die keine Fiskalunion ist, stößt sie in Krisenzeiten jedoch an ihre Grenzen. Wirklich dramatisch wird das Problem dann, wenn die Nullzinsgrenze erreicht ist – eine Situation, die von den Architekten des Euro schlechterdings nicht voraussehbar war. Bereits im September 2014 hat die EZB die Zinsen auf null Prozent gesenkt. Zinsen wesentlich unterhalb der Nullgrenze sind technisch nicht möglich, weil die Sparer sich dann entschließen würden, Bargeld zu horten.

Wenn nun an der Nullzinsgrenze die Inflationserwartungen weiter fallen – und wir sprechen hier nicht über die aktuell gesunkenen Ölpreise, sondern über eine fallende Inflationserwartung im Fünfjahreshorizont –, dann ist die klassische Architektur der Eurozone überfordert.

In Deutschland haben wir in dieser Situation reflexartig dreimal „Nein“ gesagt: Erstens zu einer unkonventionellen Geldpolitik an der Nullzinsschranke, zweitens zu einer Aufweichung der europäischen Defizitregeln an der Nullzinsgrenze und drittens zur Schaffung eines makroökonomisch relevanten europäischen Investitionsfonds.

Doch das war falsch. Die geringe Gesamtnachfrage und eine zu niedrige Inflationsrate haben in Japan viel Schaden angerichtet?– allerdings ohne dabei Japan oder den Yen in ihrer Existenz zu bedrohen. Die noch junge Eurozone, wo der gesellschaftliche und politische Zusammenhalt nicht so stark ist, würde jedoch an einem „japanischen Jahrzehnt“ zerbrechen.

Das liegt besonders daran, dass es in einem Umfeld mit Nullinflation sehr lange dauert, bis die Krisenländer über die Anpassung der relativen Preise und Löhne wieder wettbewerbsfähig werden. Ebenso schwierig ist es, unter der Bedingung von Nullinflation die Überschuldung und die leider noch immer nicht ausgestandenen Probleme der Banken zu bewältigen. Deshalb besteht auf der ökonomischen Ebene die akute Gefahr einer verlorenen Generation, während auf der politischen Ebene eine dramatische Radikalisierung droht, deren Vorboten wir in einigen Ländern der Eurozone schon heute beobachten – und die in letzter Konsequenz den Euro und das europäische Projekt zerstören würden.

Deshalb müssen wir deutlich strategischer als in den vergangen Monaten darüber nachdenken, wo in Zeiten der Nullzinspolitik Deutschlands und Europas Interessen liegen – und dementsprechend handeln. Es ist wichtig, auch in dieser schwierigen Phase die Glaubwürdigkeit der europäischen Defizitregeln zu bewahren, und trotzdem die Perspektive eines fiskalischen Investitionsschubs zu entwickeln. Daher müssen wir den bisher unseriös gehebelten europäischen Investitionsfonds mit Beiträgen aus den nationalen Haushalten soweit aufstocken, dass ein substanzieller makroökonomischer Impuls möglich ist bei gleichzeitiger strenger Qualitätskontrolle der zu genehmigenden Projekte. Darüber hinaus müssen wir darüber entscheiden, welche sinnvollen Zukunftsinvestitionen in Deutschland in den kommenden Jahren zusätzlich getätigt werden könnten. Das würde, im Sinne einer Win-win-Situation, Deutschland voranbringen und gleichzeitig die Anpassungs-prozesse in der Eurozone erleichtern.

Diese fiskalischen Maßnahmen wären – zusammen mit den in einigen Ländern weiterhin dringend erforderlichen wachstumsorientierten Strukturreformen – dazu geeignet, die Europäische Zentralbank an der Nullzinsgrenze zu entlasten. Genau dies hatte übrigens Mario Draghi bereits in seiner Rede im amerikanischen Jackson Hole im Sommer 2014 völlig zu Recht gefordert. Deshalb ist die öffentliche Diskussion in Deutschland?– insbesondere in konservativen Kreisen – fadenscheinig. Wir sehen mit Sorge, wie ein wichtiger Teil der Politik einerseits genau weiß, dass die EZB keine überzeugenden Alternativen zur Erreichung ihres Inflationsziels hat, dieselben Politiker andererseits aber die quantitative Lockerung mit Freude kritisieren, nur weil das in ihren Wahlkreisen unglaublich populär ist. So wird das Vertrauen in die Durchsetzungsfähigkeit der EZB unterminiert. Angesichts der tatsächlich auch vorhandenen Gefahren einer Politik der quantitativen Lockerung – vor allem die Gefahr der Blasenbildung – würden wachstumsorientierte Reformen und ein ernstzunehmend dimensionierter europäischer fiskalischer Impuls dazu beitragen, das erforderliche Ausmaß und die Dauer der quantitativen Lockerung zu begrenzen.

Die Bewältigung der unmittelbaren Herausforderung an der Nullzinsgrenze ist allerdings keine hinreichende Bedingung für den langfristigen Erfolg der Eurozone, sondern die kurzfristig notwendige Bedingung für ihr Überleben.

Um den Euro langfristig erfolgreich zu machen, brauchen wir einen weiteren Integrationsschub. Wir müssen die Bankenunion vollenden und einen Versicherungsmechanismus zur Abfederung von länderspezifischen Schocks einführen, zum Beispiel in Form einer europäischen Arbeitslosenver­sicherung. Außerdem ist es notwendig, europäische öffentliche Güter auch europäisch zu finanzieren, etwa den humanitären Umgang mit Flüchtlingen. Und schließlich müssen wir die Krisenmechanismen europäisieren, um den dysfunktionalen Antagonismus zwischen Athen und Berlin durch ordentliche, legitimierte Entscheidungen einer Euroregierung zu ersetzen, die selbstverständlich durch ein Europarlament kontrolliert werden müsste. Damit wären – wie von der Glienicker Gruppe dargelegt – auch die Voraussetzungen für eine geordnete Insolvenz von Staaten in der Eurozone geschaffen, die im Vertrag von Maastricht nur gefordert, aber nicht hinreichend operationalisiert wurde.

Vor diesen Veränderungen scheuen manche noch zurück, weil schwierige Vertragsveränderungen erforderlich wären. Doch es ist keine Staatskunst, nur auf Sicht zu fahren und auf Zeit zu spielen. Übersehen wird dabei, dass die unzureichende institutionelle Architektur der heutigen Eurozone anti-europäische Kräfte stärken kann.

Ein guter und tragfähiger politischer Kompromiss zur Lösung der Probleme in der Eurozone würde bedeuten, dass alle Länder der Eurozone davon profitieren. Erschwert wurde dies in den vergangenen Jahren dadurch, dass die politische Auseinandersetzung auf einen eindimensionalen Verteilungskonflikt zwischen Krisenländern und finanzstarken Ländern verengt wurde. Europapolitik wurde als ein Tauziehen inszeniert, mit der allseits weit verbreiteten Sorge, über den Tisch gezogen zu werden. Europapolitik lebt aber davon, dass sie kein Nullsummenspiel ist, bei dem man über den Tisch zieht oder gezogen wird, sondern dass sie den zu verteilenden Kuchen für alle vergrößert.

Damit das gelingt, braucht die europäische Politik mehrere Verhandlungsdimensionen – genauso wie durch internationalen Handel nur dann Wohlstand geschaffen wird, wenn es mehrere Güter gibt. So paradox es auch klingen mag: Um die Eurokrise erfolgreich zu überwinden, müssen wir alle einen Schritt zurücktreten und den Blick für die gemeinsamen Interessen jenseits der Eurokrise weiten – in der Nachbarschaftspolitik, im Zusammenspiel mit den Vereinigten Staaten und China, in der Entwicklungspolitik, in der Einwanderungspolitik und in der Energiepolitik. Anschließend müssen wir versuchen, über diese Politikdimensionen hinweg nach tragfähigen Kompromissen zu suchen, die die Eurozone und Europa insgesamt auch institutionell weiterentwickeln. Die Zeit drängt.

(c) Berliner Republik

Für den „Hammelsprung“, ein politisches Magazin von Studierenden der NRW School of Governance, habe ich folgenden Beitrag verfasst:

Ja, ich gebe es freimütig zu: Es gab den Moment vor dem weißen Blatt, an dem ich die Zusage für dieses Grußwort bereut habe! „Politik und Emotionen“ – haben die Studenten denn nichts Besseres zu erforschen? Politik ist schließlich eine rationale Angelegenheit und Emotionen gehören ins Ehebett. So dachte ich jedenfalls mit meinem Karl Popper in der Hosentasche und kaute auf dem digitalen Bleistift.

Doch dann kam r2g in Thüringen und als frisch gewählter Landesvize der SPD sehe ich mich spätestens seit der Aufnahme der rot-rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Erfurt von Emotionen umzingelt. So schnell kann Theorie praktisch werden!

Verblüffende Ambivalenz: Während die Redaktion durch die Ereignisse länger als geplant auf diesen Text warten musste, wofür ich mich nochmals in aller Form entschuldige, bekam ich hierdurch doch genau die tagesaktuellen empirischen Eindrücke, die diese Zeilen befördert haben.

Von „Verrat“ ist dieser Tage in Thüringen viel die Rede, von „Tabubruch“ und „Geschichtsvergessenheit“, alles samt hochemotionale Begrifflichkeiten und der politische Akteur, der sich dem kritischen Rationalismus verpflichtet fühlt, muss die Kraft des besseren Arguments auch an der Front politischer Emotionen behaupten können. Und Don Quichotte ist sein ständiger Begleiter!

Als brauchbares diskursives Konzept hat sich dabei die Unterscheidung von authentischer Emotion und strategischer Emotionalisierung herausgestellt. Als Arbeitshypothese, sozusagen.

Ja, es gibt die sich selbst legitimierende emotionale Einlassung, sofern sie personengebunden und authentisch, soll heißen unmittelbar und unverfälscht geäußert wird. Ich erlebe dieses Phänomen derzeit in Gesprächen mit skeptischen Parteimitgliedern. Was sollte man den gesättigten biografischen Negativerfahrungen in der DDR von respektablen Demokraten, deren Sohn man sein könnte, auch argumentativ entgegen setzen? Entweder ist der Respekt zu groß oder das Gefühl zu stark. Auf dieser persönlichen Ebene tut das streitlustige Sachargument gut daran, einfach nur zuzuhören, aktiv, nachdenklich, in angemessener Demut! Hier hat Emotionalität ihre uneingeschränkte politische Legitimation, als konstruktiv-kritische Unschärferelation. Ja, wir brauchen diese Emotionen als sittliche Ressource für ein gelingendes Miteinander!

Doch auch auf den persönlichsten Gefühlen ziehen strategische Trittbrettfahrer ihre Runden. Emotionalität verspricht noch jeder politischen Kampagne Anschlussfähigkeit. Sittlich wertvoll ist das selten und hoffentlich immer weniger erfolgreich!

Wenn anlässlich der zeitgeschichtlichen Erinnerung an den Mauerfall vor 25 Jahren derzeit in Thüringen kollektive Gefühle als Protest gegen eine demokratisch legitimierte Regierungsbildung proklamiert werden, muss das skeptisch stimmen. Auf den zweiten, spätestens auf den dritten Blick entpuppen sich hinter dem Vorhang gemeinschaftlicher Gefühlsregungen doch immer wieder sehr heteronome Interessen!

Und das 20. Jahrhundert ist ein plastisches Beispiel für das gesellschaftliche Spaltungspotential, für die destruktive Macht und die letztliche Unkontrollierbarkeit allzu kritiklosen und euphorischen Gemeinschaftsempfindens. Können Gefühle überhaupt zugleich authentisch und kollektiv sein? Ich glaube, das sind eher Stimmungen, allgemeine Gefühlslagen. Der WM-Titel, weihnachtliche Besinnlichkeit oder ausgelassene gemeinschaftliche Lebenslust zum Karneval! All dies hat seine Berechtigung, es mag Rhythmus geben, eine Art sozialer Orientierung, aber niemals Überzeugung.

Solche sozialen Stimmungslagen sind ebenso verlockend wie spontan. Es sind „social moments“. Sich damit positiv zu verknüpfen, ist in freien Gesellschaften sowohl wirtschaftlich als auch politisch zwingend! Dies ist Teil der kommunikativen Geschäftsgrundlage. Die Grenze zur Emotionalität verläuft freilich oftmals fließend. Doch auf die kritische Grenzziehung kommt es gerade an!

Um es mit Popper zu formulieren, muss sich „die offene Gesellschaft“ genau an dieser virtuellen Grenze gegenüber „ihre(n) Feinde(n)“ behaupten, jeden Tag. Ich will das abschließend an einem Beispiel aus dem bereits in Anspruch genommenem 20. Jahrhundert verdeutlichen.

Als Willy Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau vor dem „Ehrenmal der Helden des Ghettos“ auf die Knie ging, war das eine höchst persönliche Geste, die die Welt zu Tränen rührte. Das war eine authentische Emotion, ebenso wirkmächtig wie legitim. Unvergesslich und ihre Legitimation unmittelbar aus sich selbst beziehend! So etwas entzieht sich jeder strategischen Planung. Diese emotionale Spontanäußerung hat die Stimmung im In- und Ausland nachhaltig geprägt.

Auch in Demut vor derartigen Persönlichkeitsäußerungen bleibe ich weiterhin skeptisch eingestellt gegenüber strategischen Emotionalisierungen und vertraue auf argumentative Kritik und nüchterne Vernunft für die Bearbeitung politischer Problemlagen. Emotionen im Ehebett mögen dafür hilfreich sein.

Derweil wünsche ich den Leserinnen und Lesern dieser Ausgabe eine rationale Lektüre in guter Stimmung! Ich danke der Redaktion für die freundliche Einladung und singe ein Loblied auf die Freiheit von Forschung und Lehre.

© Hammelsprung Ausgabe 9